Vages wagen – Seite 1
Jeder möchte gerne Weltspitze sein, das scheint auch für Staaten zu gelten. Und am liebsten auf einem Feld, das nicht mehr nur reine Zukunfts-, sondern bereits Gegenwartstechnologie umfasst. So wie etwa künstliche Intelligenz (KI). Die drei Bundesministerien für Wirtschaft, Forschung und Arbeit haben gemeinsam ein Eckpunktepapier für eine nationale KI-Strategie erarbeitet, das das Kabinett am Mittwoch verabschiedet hat. Als eines der ersten Ziele wird darin formuliert: "Deutschland soll zum weltweit führenden Standort für KI werden." Auf die Idee sind andere Nationen schon vorher gekommen. Doch das ist selbstverständlich kein Grund, es nicht zu versuchen.
Der Versuch ist sogar elementar – und zwar nicht nur für den Wirtschafts- und
Forschungsstandort Deutschland. Sondern für das Land überhaupt: Die vielen und
zum Teil noch gar nicht vorhersehbaren Anwendungen, die es für diese Technologie
geben wird, für maschinelles Lernen insbesondere und tiefe neuronale Netzwerke,
werden unseren Alltag, unser Leben, unsere Berufe, die Gesellschaft an sich
verändern. Wenn die Produkte und die Anwendungen nicht wieder nur aus den USA kommen sollen, dann muss Deutschland etwas machen, eine eigene Strategie entwickeln.
Die
Obama-Administration hat im Jahr 2016 eine nationale KI-Strategie für die USA
formuliert, die allein schon wegen der Bedeutung Amerikas in Tech-Fragen
wegweisend war. Ihr Kern bestand aus einer Absichtserklärung, den damaligen und
bis heute bestehenden Forschungs- und Anwendungsvorsprung in diesem Bereich vor
allen anderen Staaten auf dieser Welt zu verteidigen. Im vergangenen Jahr ist China
nachgezogen mit einem aggressiven Plan, bis 2025 mit den USA auf dem Feld künstliche Intelligenz gleichzuziehen
und bis 2030 die Weltführerschaft zu erlangen. Das ist schon deshalb kein völlig
unrealistisches Ziel, weil die chinesische Staatsführung die
Forschungsbemühungen im Bereich KI nun extrem fördert. Die heimische Tech-Industrie
wächst derweil ungestört – protektionistisch vor Konkurrenz von außen geschützt
und dank Hunderter Millionen chinesischer Smartphone-Besitzer mit einem riesigen
Kundenkreis gesegnet – und generiert dabei irre Datenmengen, die unter anderem
auch Basis für das geplante Social Credit System in China sind. Diese
Daten werden dann KIs strukturieren.
Ein Hauch Obama
Das nun vom Kabinett Merkel für Deutschland gebilligte KI-Entwurfspapier soll bis zum Digital-Gipfel Anfang Dezember zur tatsächlichen Strategie heranwachsen und lässt sich entsprechend am ehesten vor dem Hintergrund der beiden umfassenden Pläne aus China und den USA betrachten. Wobei der amerikanische National Artificial Intelligence Research and Development Strategic Plan faktisch bereits hinfällig geworden ist: Das nur wenige Wochen vor den US-Präsidentschaftswahlen 2016 vorgestellte Papier wurde von der Nachfolgeregierung Trump regelrecht geschreddert. Einen wirklichen Ersatz gibt es bisher nicht. Die Fortentwicklung und Nutzung von künstlicher Intelligenz überlässt die Trump-Administration einstweilen den heimischen Tech-Konzernen wie Google, Facebook und Amazon.
Das deutsche Eckpunktepapier ähnelt in vielerlei Hinsicht der ursprünglichen amerikanischen Strategie. Das beginnt bei der wenig überraschenden Absichtserklärung, die KI-Forschung ausbauen zu wollen. Ebenso ähnlich ist das Ziel, dass KI-Anwendungen, die sich auf die Arbeitswelt auswirken könnten, den Menschen nicht ersetzen sollen. "Wir wollen dafür Sorge tragen, dass die Erwerbstätigen bei der Entwicklung von KI-Anwendungen in den Mittelpunkt gestellt werden", heißt es in dem deutschen Papier. In der Obama-Strategie war dieser Punkt etwas technokratischer formuliert: "Research is needed to create effective interactions between humans and AI systems." ("Es ist Forschung dahingehend nötig, effektives Interagieren zwischen Menschen und KI-Systemen zu ermöglichen.").
Die Aussagen zu möglichen ethischen und rechtlichen Konsequenzen wiederum, die sich mit dem Einsatz von KI verbinden, sind in den Eckpunkten der Bundesregierung bemerkenswert defensiv beschrieben: "Wir wollen sowohl Entwicklerinnen und Entwickler als auch Nutzerinnen und Nutzer von KI-Technologie für die ethischen und rechtlichen Grenzen der Nutzung künstlicher Intelligenz sensibilisieren und prüfen, ob der Ordnungsrahmen für ein hohes Maß an Rechtssicherheit weiterentwickelt werden muss." Die Obama-Administration hatte 2016 klarer vorgegeben, dass KI-Systeme "ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Zielen" entsprechen müssten.
Die Ausgangssituation Deutschlands allerdings ist eine wesentlich andere als die der KI-Großmächte Amerika und China. Unternehmen, die in vergleichbarem Ausmaß Daten erheben und prozessieren wie die Konzerne im Silicon Valley, aber auch die chinesischen Digitalriesen Tencent, Baidu und Alibaba, gibt es hierzulande nicht. Das Vorhandensein riesiger Datenmengen zum Trainieren und Verbessern von KI-Systemen ist zumindest für die beiden Anwendungsbereiche von größter Bedeutung, die längst im Alltagsgebrauch sind, nämlich Bild- und Spracherkennung. Deutschland war in der Vergangenheit erfolgreich in der Grundlagenforschung zu künstlicher Intelligenz, doch deren Einsatz zu kommerziellen Zwecken begann anderswo. Und die gesetzlichen Bestimmungen zum Datenschutz sind in der EU deutlich andere als in den USA oder gar in China, wo Datenschutz quasi unbekannt ist und der gläserne Bürger eine Realität.
Die fehlende unternehmerische Tech-Basis einerseits
und die bestehenden Datenschutzbestimmungen andererseits sind die beiden
wesentlichen Begrenzungen für jede staatliche KI-Strategie in
Deutschland. Insofern ist die Betonung im Eckpunktepapier darauf, den
KI-Forschungsstandort Deutschland stärker zu fördern, eine nachvollziehbare und
vernünftige Maßnahme, aber eben doch eine politische Vermeidungsgeste: Woran
man nichts ändern kann oder will, das spricht man offenbar lieber nicht zu
konkret an.
Außer der Zusicherung, man wolle sicherstellen, dass "IT-Systeme,
die KI nutzen und zur Anwendung bringen, ein hohes Niveau an IT-Sicherheit
gewährleisten, damit Manipulation, Missbrauch und Risiken für die öffentliche
Sicherheit dieser sensitiven Technologie bestmöglich verhindert werden", finden
sich erstaunlich wenige Hinweise auf Datensicherheit im Papier der
Bundesregierung. "Die Empfehlungen der Datenethikkommission werden wir bei der Erarbeitung
und Umsetzung der Strategie aufgreifen", heißt es noch. Der Hinweis auf die
laufende Diskussion in diesem Gremium wird aber nicht weiter präzisiert. Stattdessen wird im Bezug auf Daten vor allem diskutiert, wie sie verfügbar gemacht werden können.
Während wir noch reden, übernimmt bereits die sprechende KI
Unterdessen werden KI-gesteuerte Anwendungen
zunehmend alltäglicher. Jeder Besitzer eines Smartphones oder eines smarten
Lautsprechers kann mit seinen Geräten reden, die Sprachassistenten hören auf
Namen wie Siri, Google und Alexa, und dahinter verbergen sich permanent weiterlernende
und damit "intelligenter" werdende Maschinen. Was weniger bekannt ist:
Sprachbasierte KI wird auch längst als Filter benutzt. Etwa von der
Social-Media-Plattform Instagram: Sie verbirgt beleidigende Kommentare automatisch, mittlerweile auch solche, die auf Deutsch verfasst wurden und nicht mal
Schimpfworte beinhalten müssen – die Instagram-KI versteht sprachliche Kontexte
und kann beleidigende Aussagen identifizieren.
So gehen wir längst mit KIs um, mitunter ohne es zu merken. Kommende Anwendungen für Bilderkennungsverfahren sind vor allem Gesichtserkennung (deren möglicher Einsatz in Deutschland mindestens umstritten ist) und die Steuerungs-Softwares für autonome Fahrzeuge. Und die medizinische Diagnostik könnte regelrecht revolutioniert werden dadurch, dass künstliche Intelligenz früher, besser und fehlerloser als menschliche Augen Anzeichen von Krankheiten etwa in MRT-Aufnahmen aufspüren und klassifizieren wird.
Am letzten Beispiel lassen sich Chancen und Risiken von KI gut verdeutlichen. Einerseits besteht die begründete Hoffnung, dass der Einsatz dieser Technologie unser aller Gesundheit zugutekommen wird. Andererseits stellen sich grundsätzliche ethische Fragen, ob und wie weit eine Maschine entscheidungsvorbereitend dabei mitwirken kann, welche Behandlungen Ärzte vornehmen. Zudem würde KI das Berufsbild der Ärzte verändern, womöglich würden manche gar überflüssig. Und wie lassen sich Patientendaten wirksam schützen? Reicht eine bloße Anonymisierung, wenn jede MRT-Aufnahme eigentlich zur Verbesserung der KI-Diagnostik gebraucht wird?
Das Eckpunktepapier der Bundesregierung bleibt auch
da vage, es ist ja auch erst mal nur ein Entwurf, der eine weitere Diskussion
ermöglicht: "Die Entwicklung der KI schreitet dynamisch voran, demgemäß muss
auch die Strategie KI in ihrer Umsetzung dauerhaft mit Vertretern aus
Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft rückgekoppelt werden, um
eine vertrauens- und innovationsfördernde KI-Kultur in Deutschland zu
etablieren."
Der Willen ist da
Erste Reaktionen auf den Kabinettsbeschluss aus der
KI-Wissenschaftsgemeinde, die das Science Media Center gesammelt hat, sind denn
auch eher zurückhaltend. Jürgen Schmidhuber ist Direktor des schweizerischen Dalle-Molle-Forschungsinstituts für
Künstliche Intelligenz und der wohl prominenteste deutsche KI-Forscher. Er sagt
zwar, die Eckpunkte der Bundesregierung läsen sich gut, er vermisse aber "Details einer konkreten Umsetzung". Deutschland solle sich vor allem auf die
Förderung "neuer KI" konzentrieren, die auf maschinellem Lernen und auf tiefen
neuronalen Netzen basiert, doch dafür müssten hierzulande erst überhaupt neue
Strukturen geschaffen werden.
Matthias Bethge vom Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften der Universität Tübingen wiederum findet die "klare Willensbekundung", Deutschland zum weltweit führenden Standort für künstliche Intelligenz machen zu wollen, "sehr gut". Er gibt aber zu bedenken: "Die Herausforderung besteht darin, eine Goldgräber-Stimmung zu entfachen, die Talente aus aller Welt nach Europa zieht." Womöglich könnte eine im Eckpunktepapier angedeutete Kooperation mit Frankreich, dessen Präsidenten Emmanuel Macron eine Technologieoffensive zumindest angekündigt hat, dabei helfen. Doch auch da sind die Details vage.
Deutlich konkretere Ideen hatte erst im Mai die Stiftung Neue Verantwortung vorgelegt in einem Papier namens Eckpunkte einer nationalen Strategie für künstliche Intelligenz. Zum Autorenkreis gehörte auch Dietmar Harhoff, der Vorsitzende der Expertenkommission Forschung und Innovation, die die Bundesregierung berät. In diesem Papier findet sich neben einer durchaus deutlichen Kritik an der bisherigen KI-Förderung in Deutschland die zentrale Anregung zum Aufbau "eines starken und international wettbewerbsfähigen KI-Ökosystems". Diese Idee sucht man im Eckpunktepapier der Bundesregierung vergeblich – oder sie ist so verklausuliert, dass man sie auch mit einer größeren Lupe nicht findet.
Die Autoren um Harhoff hatten ihre Eingangsbemerkungen in dem Papier mit einer erstaunlichen Sentenz geschlossen: "Das Gute ist, dass Deutschland das Rad nicht neu erfinden muss: Zahlreiche Länder haben bereits nationale KI-Strategien vorgelegt, in denen sich viele gute Ideen finden lassen. Nun ist es aber dringend Zeit, dass Deutschland auch endlich selbst nachzieht."
Daran hat sich die Bundesregierung durchaus gehalten. Nun hat sie noch knapp vier Monate Zeit, eine wirklich konkrete, nationale KI-Strategie vorzulegen.
Jeder möchte gerne Weltspitze sein, das scheint auch für Staaten zu gelten. Und am liebsten auf einem Feld, das nicht mehr nur reine Zukunfts-, sondern bereits Gegenwartstechnologie umfasst. So wie etwa künstliche Intelligenz (KI). Die drei Bundesministerien für Wirtschaft, Forschung und Arbeit haben gemeinsam ein Eckpunktepapier für eine nationale KI-Strategie erarbeitet, das das Kabinett am Mittwoch verabschiedet hat. Als eines der ersten Ziele wird darin formuliert: "Deutschland soll zum weltweit führenden Standort für KI werden." Auf die Idee sind andere Nationen schon vorher gekommen. Doch das ist selbstverständlich kein Grund, es nicht zu versuchen.