ZEIT ONLINE: Herr Srnicek, in Ihrem Buch Platform Capitalism erklären Sie, wie ein Geschäftsmodell unsere Zeit beherrscht. Eine kleine Zahl von Firmen hat es geschafft, die Vernetzung von Marktteilnehmern profitabel zu machen, und wird dadurch immer größer und mächtiger. Beginnen wir am Anfang. Was meinen Sie mit "Plattform"?

Nick Srnicek: Das Geschäftsmodell der Plattform gibt es eigentlich schon lange. Shoppingmalls zum Beispiel sind physische Plattformen. Sie verdienen ihr Geld damit, dass sie zwei Gruppen – Einzelhändler und Kunden – zusammenbringen. Digitale Technologie hat das Plattformmodell allgegenwärtig werden lassen. Facebook zum Beispiel vermittelt zwischen Werbenden, Softwareentwicklern, Firmen, die das Netzwerk als Kommunikationsplattform nutzen und individuellen Nutzern. Interaktionsdaten werden wie ein Rohstoff extrahiert und verwertet. In diesem Ausmaß hat es so etwas in der Geschichte des Kapitalismus noch nicht gegeben. John Deere und Monsanto versuchen gerade, eine Plattform für die Landwirtschaft aufzubauen, Siemens und General Electric (GE) tun es für die verarbeitende Industrie.

Nick Srnicek, Jahrgang 1982, forscht am King's College in London über Automatisierung, soziale Reproduktion und die Ökonomien künstlicher Intelligenz. In seinem Buch "Platform Capitalism" (Polity Press, die dt. Übersetzung erscheint im März 2018 in der Hamburger Edition) spricht er sich dafür aus, große Plattformen nicht nur zu regulieren. Sie seien so mächtig geworden, dass man sie in öffentlichen Besitz überführen müsse. © Nick Srnicek

ZEIT ONLINE: Dass Facebook eine Plattform ist, leuchtet ein, der Austausch findet fast buchstäblich "auf" Facebook statt. Wie könnte ein Industrieunternehmen etwas Ähnliches sein?

Srnicek: Siemens und GE versuchen gerade, die Infrastruktur für ein industrielles Internet zu schaffen. Sie nennen es Industrie 4.0. Sie bauen Cloud-Dienste und Softwareanalytik, um Maschinen, Einzelteile und Arbeitskräfte zu vernetzen. Unabhängige Entwickler sollen sich in den Prozess einklinken, Industriefirmen die Dienste mieten. Beide wollen zu einer Art App Store für Fabriken werden.

ZEIT ONLINE: Die Autoindustrie, in der in Deutschland etwa 800.000 Menschen arbeiten, hat schon lange verteilte Produktionsketten mit Subunternehmern und modularisierten Endprodukten. Sind Firmen wie Volkswagen oder BMW nicht längst Plattformen?

Srnicek: Ich würde sagen nein. Natürlich werden Dinge ausgelagert, aber der Prozess bleibt linear: Eine Firma baut ein Teil, eine andere verbaut es und vermarktet das Endprodukt. Auf einer Plattform ist die Abhängigkeit nicht linear, sondern wechselseitig. Uber zum Beispiel funktioniert nur, wenn es zugleich genügend Fahrer und Fahrgäste gibt. Beide Gruppen umkreisen sich und werden immer wertvoller füreinander.

ZEIT ONLINE: Warum ist dieses Modell so erfolgreich?

Srnicek: Plattformen schaffen Netzwerkeffekte. Auf einfachster Ebene bedeutet das, dass die Plattform für alle Beteiligten umso wertvoller wird, je mehr Leute mitmachen. Es kann sein, dass Sie Facebooks Umgang mit Daten nicht mögen. Aber wenn Sie sich heute bei einem sozialen Netzwerk anmelden, wird es wahrscheinlich Facebook oder einer seiner Ableger sein – einfach deshalb, weil alle Ihre Freunde und Verwandte schon dort sind. Netzwerkeffekte sorgen dafür, dass konkurrierende Plattformen es sehr schwer haben. Digitale Plattformen haben eine natürliche Tendenz zum Monopol.

ZEIT ONLINE: Von Facebook behaupten viele, es sei zum Quasi-Monopolisten für die Orchestrierung von Öffentlichkeit geworden. Spätestens seit Trumps Wahl haben Politiker das bemerkt. Was halten Sie von den bisherigen Ansätzen, Facebook zu regulieren?

Srnicek: Nicht besonders viel. Das meiste basiert auf Selbstregulierung. Das heißt, Facebook versucht, seinen Newsfeed und die automatisierte Erkennung von Hassrede oder Fake News zu verbessern. Ich will gar nicht behaupten, dass diese Dinge den Managern egal sind. Das Problem ist, dass ihr gesamtes Geschäftsmodell auf dem Ausspielen von Werbung beruht. Und Onlinewerbung basiert auf Überwachung. Je mehr und je privater die Daten, desto gezielter die Anzeigen, und desto besser das Geschäft. Daher kommt der strukturelle Anreiz, die Aktivität der Nutzer möglichst hoch zu halten. Mit schlechten Inhalten gelang das bisher ziemlich gut. Deshalb wurden sie nach oben gespült.

ZEIT ONLINE: Mark Zuckerberg sagte kürzlich, er gehe davon aus, dass die Verweildauer und das Engagement der Leute auf Facebook dieses Jahr zurückgehen werde. "Time well spent" – weniger, dafür aber bessere Zeit auf Facebook soll das Motto sein. Ist das nur Rhetorik oder steckt dahinter die Einsicht, dass man ein Geschäftsmodell zu weit getrieben hat?

Srnicek: Es könnte auch damit zu tun haben, dass Facebook bessere Nutzerdaten bekommen möchte. Es gibt Forschungen, die zeigen, dass Google wertvolleres Wissen über seine Nutzer besitzt als Facebook. Die Selbstdarstellung auf Social Media, ob in Gruppenchats oder öffentlichen Posts, ist immer idealisiert. Einen Suchverlauf bei Google macht hingegen niemand öffentlich. Dort sieht man zum Beispiel auch, ob jemand nach bestimmten Krankheiten sucht. Das Bild, das Google von seinen Nutzern hat, ist vermutlich etwas authentischer. Facebook wird gemerkt haben: Wenn Fake News oder minderwertige Inhalte dazu führen, dass die Nutzer sich immer weiter zerstreiten, verlieren sie irgendwann die Lust am Netzwerk – was bereits passiert – und vor allem wird die Datenqualität nicht besser.

ZEIT ONLINE: Natürlich ist es problematisch, wenn Algorithmen weniger Plattformen den öffentlichen Meinungsraum ordnen. Aber Plattformen haben aus Nutzersicht auch immense Vorteile. Die Geschichte von Amazon begann damit, dass es ein zentrales Netz für dezentrale Buchläden schuf. Glauben Sie, dass eine Plattform, sobald sie einer Monopolstellung nahe kommt, diese Marktmacht zwangsläufig missbraucht?

Srnicek: Seit die großen Plattformen sich gefestigt haben, ist für Nutzer vieles einfacher geworden. Uber ist nutzerfreundlicher als gewöhnliche Taxis, wenn Sie Gmail benutzen, werden Informationen aus ihren E-Mails automatisch in ihren Kalender importiert und so weiter. Missbrauchen diese Firmen ihre Macht? Ich würde sagen, das passiert längst. Amazons Suche nach einem Standort für seinen zweiten Firmensitz ist ein gutes Beispiel. Man lässt eine Reihe von Städten gegeneinander antreten. Wer die beste Infrastruktur und die höchsten Steuererleichterungen bietet, gewinnt. Es gäbe viele andere Beispiele. Facebook wird nicht dazu betrieben, dass wir alle unsere Ideen austauschen. Sondern damit Werbende mehr Daten über uns erhalten. Das ist die primäre Funktion. Alles andere ist ein Nebenprodukt.

ZEIT ONLINE: Ist das nicht ein Geschäftsmodell, dass Facebook erst mit der Zeit entwickelt hat? Kann man bei solchen Firmen die gesamte Idee auf ein Einnahmemodell verkürzen?

Srnicek: Interessant an der Plattformökonomie ist, dass nur die allergrößten Firmen in der Lage sind, überhaupt profitabel zu werden. Twitter hat es gerade zum ersten Mal in elf Jahren geschafft, ein positives Quartalsergebnis zu erzielen. LinkedIn, Whatsapp, Snapchat, alle diese Firmen haben in jedem einzelnen Geschäftsjahr Verluste geschrieben. Trotzdem werden sie zu Milliardenpreisen verkauft. Das liegt daran, dass Daten zu einem Rohstoff geworden sind, der sich auf verschiedene Weisen monetarisieren lässt.