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Sascha Lobo

Technologiewandel Die verpasste Zukunft

Sie haben gerade gute Laune? Das können wir ändern. Mit einer einfachen Betrachtung, wie unterschiedlich sich Deutschland und sein wichtigster Nachbar dem Thema der künstlichen Intelligenz widmen.
Roboterkopf

Roboterkopf

Foto: Kin Cheung/ AP

Zugegeben: Es ist unwahrscheinlich, aber es kann ja sein, dass Sie in Deutschland leben und zu gute Laune haben. Dass Sie über das normale Maß (null) hinaus Zufriedenheit, Zuversicht und Zukunftsfreude empfinden. Seit Kurzem gibt es ein fantastisches Mittel dagegen: der direkte, politische Vergleich der Bereiche Technologie und Zukunft zwischen Frankreich und Deutschland.

Emmanuel Macron hat soeben eine Rede über die französische Strategie für künstliche Intelligenz (KI) gehalten . Andreas Scheuer hat soeben die Idee für eine App vorgestellt , mit der man ein Funkloch melden soll, sollte man in eines geraten.

Gut, diese Gegenüberstellung ist unfair. Für Macron. Eigentlich hätte es heißen müssen: Angela Merkel lässt zu, dass ein CSU-Ex-Doktor als niederbayerischer Quotenminister scheindigitale PR-Maßnahmen in die Landschaft trötet, die die Verantwortung für die schlechte Infrastruktur am Ende wieder auf die Bevölkerung abwälzen ("Hätten Sie damals die Melde-App benutzt, wäre da jetzt kein Funkloch mehr!").

Unwissen zugeben

Zur Vorstellung seiner Strategie hat Macron der Technologiezeitschrift "Wired" ein Interview gegeben . Per Videochat. Die offiziellen Fotos zeigen den Präsidenten mit einem Laptop parlierend wie normale Großeltern heute mit ihren Enkeln. Digitale Volksnähe ist die Botschaft, und natürlich ist das alles durchinszeniert.

Trotzdem wäre dieses Symbol bei Merkel undenkbar, bei Scholz irritierend und bei Seehofer denkbar, aber peinlich. Da verzeiht man Macron sogar, dass unter dem Laptop ein Ausstellungskatalog mit dem Titel "Modern sein" liegt  - weil das Interview trotz Überinszenierung Substanz hat. Weil Ideen umrissen und Probleme konkret beschrieben werden, weil Macron Unwissenheit zugibt, ohne dass es sich nach Koketterie anhört.

Gestaltungswillen statt Verwaltungswillen

Das eigentliche Depressivum aus deutscher Sicht: Man bekommt einen Eindruck, wie Regierung auch sein könnte. Unabhängig von der politischen Verortung. Da denkt jemand anhand von gegenwärtigen Erkenntnissen über die Zukunft nach und entwickelt daraus eine digitalpolitische Vision, die sich nicht nach Kabelverlegerei oder Schutz vor Veränderung anhört. Macron erklärt seine KI-Strategie als "interdisziplinäre Kreuzung aus Mathematik, Sozialwissenschaften, Technologie und Philosophie. Das ist absolut kritisch". Wann hat zuletzt ein Bundeskanzler Sozialwissenschaften und Philosophie auch nur erwähnt, geschweige denn als "absolut kritisch" bezeichnet?

Es gibt zweifellos einiges an Macron zu kritisieren. Seine radikale Überwachungspolitik. Seine nicht sonderlich soziale Sozialpolitik. Eines der Erfolgsrezepte seiner neuen Partei - "Nicht rechts, nicht links" - erscheint historisch wie gesellschaftlich problematisch. Es ist auch nicht so, dass Macron im Interview nur kluge Dinge sagt, natürlich haben sich Phrasen und Hülsen eingeschlichen. Manchmal blitzt der Wunsch als Vater der Analyse auf, etwa wenn er sich überzeugt gibt, dass es keine fahrerlosen Autos geben werde.

Aber selbst wenn nur zehn Prozent der von Macron in seiner KI-Rede angekündigten Projekte umgesetzt werden sollten, wird der Unterschied zu Deutschland so bitter deutlich: Gestaltungswillen statt Verwaltungswillen. Während man in Deutschland künstliche Intelligenz als wunderliches Spezialfach oder bedrohliche Science Fiction betrachtet, formuliert Macron, dass "diese riesige technologische Revolution tatsächlich eine politische Revolution" sei.

Das ist die wichtigste Erkenntnis, der Grund für die Schmerzen, die man im direkten Vergleich zwischen französischer KI-Vision und deutscher Retrodigitalpolitik empfinden muss. Künstliche Intelligenz ist nicht nur, aber auch, eine Chiffre für Zukunft.

Wenn Wandel zur Pflicht und Vision zum Gebot wird

Die Merkel-Jahre werden nicht als Herrschaft des Pragmatismus in die Geschichte eingehen. Sondern als die phlegmatischen Jahre der verpassten, verblassten Chancen. Der Unterschied zwischen pragmatisch und phlegmatisch wird deutlich, wenn Wandel zur Pflicht und Vision zum Gebot wird. Das ist jetzt der Fall. Es müsste dringend auf höchster Ebene über Macht und Machtbegrenzung der kommenden Digitalisierung, die von KI geprägt sein wird, nachgedacht werden. Künstliche Intelligenz beschert uns gerade einen kritischen Moment in der Geschichte der Menschheit - den Übergang der Maschinen von der Rechenarbeit zur Denkarbeit. Im Begriff KI vermengen sich dabei:

  • Big Data, die Auswertung riesiger, ständig wachsender Datenmengen
  • Mustererkennung und -bewertung in bisher unerreichtem Ausmaß
  • lernende Maschinen, die immer besser und effizienter werden

Der Grund, warum eine demokratische Perspektive auf KI notwendig wird, ist nicht nur das, was KI kann und können wird. Sondern auch, was KI nicht kann und nicht können soll. Es beginnt mit der Automatisierung von Arbeitsprozessen, die zuvor nicht automatisierbar schienen. Es geht weiter mit den Auswirkungen von KI auf jede Form von Privatsphäre durch die möglichen, umfangreichen Rückschlüsse aus Datensammlungen.

Gleichzeitig ist der ökonomische Vorteil durch künstliche Intelligenz in fast jeder Branche so riesig wie teuer im Einsatz: Nur die klügsten und reichsten Unternehmen sind in der Lage, KI-Forschung sinnvoll zu betreiben. Die digitale Plattform-Ökonomie könnte durch KI noch monopolistischer werden, als sie es schon ist. Diesen künftigen Verwerfungen müsste man durch kluge Regulierung begegnen. Müsste man. Klug.

Entscheidungen werden maschinell vorbereitet und getroffen

Am wirkmächtigsten erscheint mir langfristig aber die so notwendige wie gruselige Attacke der Denkmaschinen auf das menschliche Unwissen. Fortschritt ist die ethisch strukturierte Reaktion einer Gesellschaft auf den Abschied vom Unwissen.

Es ist zwar nicht so, dass eine KI ab übermorgen alles modellieren und prognostizieren kann. Im Kern erscheint mir vor allem menschliches Verhalten weniger einfach berechenbar, als man befürchtet oder hofft. Aber die Denkmaschinen der künstlichen Intelligenz verschieben die Grenzen dessen, was man wissen kann, die Art, wie dieses Wissen gewonnen wird und damit die Grundlagen für alle Entscheidungen.

Deshalb wird KI in Zukunft auf ökonomische und politische Entscheidungen wirken wie heute der Beraterstab: Man kann sich gegen deren Empfehlung entscheiden, aber man muss wissen warum, es begründen und dann das Risiko tragen. In einer risikoaversen Gesellschaft wie Deutschland wird das trotz Digital-Skepsis konkrete Folgen haben: Immer mehr Entscheidungen, die maschinell vorbereitet oder getroffen werden.

Weil digitale Vernetzung immer auch Skalierbarkeit bedeutet, geht es weniger um das Große, Plakative, als um das Kleine, Alltägliche. Das dafür milliardenfach. Oft in allerbestem Sinn gesellschaftlichen Wohlergehens und manchmal mit katastrophalen Folgen. Wie Fortschritt seit Anbeginn der Zivilisation eben wirkt. Von der Entscheidung für Dosierung und Bezahlung eines Medikaments, über die Gewährung eines Kredits bis zur Auswertung der Daten aus der ausufernden staatlichen Überwachung. Wie lange wird es dauern, bis Superheimatminister Seehofer KI für die innere Sicherheit vorschlägt?

"Aber ich glaube auch, dass KI die Demokratie absolut gefährden könnte", sagt Macron nach der Erklärung ihrer Notwendigkeit, der Beschwörung der offenen KI-Forschung und der Forderung nach Gestaltung der Digitalen Transformation. Er könnte nicht richtiger liegen, weder mit der Warnung noch mit der erklärten Teilnahmepflicht an der KI-Revolution. Frankreich hat eine staatliche KI-Strategie, Deutschland versucht, in dieser Legislatur jetzt aber wirklich die Breitbandziele von 2013 zu erreichen. Sehen Sie? Ihre gute Laune ist wie weggeblasen.