Indischer Geldschein mit dem Portrait Mahatma Ghandis
© jayartin – Pixabay
Parvati Vasanta
9. Januar 2020

Mit weniger mehr erreichen: Was wir von Indien lernen können.

Warum es sich lohnt, Innovation und gesellschaftliche Teilhabe stärker zusammen zu denken. Was deutsche Manager ganz legal bei asiatischen Unternehmern kopieren sollten und wie ihnen ein neuer Innovationsatlas auf der Suche dabei helfen könnte.

Es scheint wie ein unauflösliches Dilemma: Die Weltbevölkerung wächst weiter, in den kommenden Jahrzehnten zumindest im globalen Süden. Und mit ihr die menschlichen Bedürfnisse sowie der Wunsch nach Wohlstand für alle. Gleichzeitig nimmt mit den Gewinnen soziale Ungleichheit auch in den Industrieländern wieder zu, schwinden die Ressourcen und ist eine nachhaltige Ökonomie zur Überlebensfrage der Menschheit geworden. Wie können Innovationen heute deshalb so gedacht und realisiert werden, dass sie sowohl ökonomisch rentabel sind, als auch dem gesellschaftlichen und menschlichen Fortschritt dienen? Die Antworten darauf kommen immer häufiger nicht aus dem Silicon Valley, sondern aus Schwellenländern des südlichen Asiens, allen voran Indien. Und sie haben eine einfache Formel*: „More for more for less.“

Praktisch angewandt zum Beispiel vom indischen Unternehmen Frontier Market. Das idealistische Ziel der Start-Up Gründerin und Geschäftsführerin Ajaita Shah: Empowerment von Frauen, indem sie als Vertriebsmitarbeiterinnen gewonnen werden, und saubere Energie für benachteiligte Menschen in den ländlichen Regionen des Subkontinents. Für Indien übersetzt Frontier Market dies in solarbetriebene Küchengeräte, Lampen und Fernseher. Mit ökonomischem Erfolg: Das Unternehmen ist rentabel, es wächst und erwirtschaftete zuletzt bereits einen Umsatz von 2,7 Millionen Dollar im Jahr. Doch Ajaita Shah denkt auch an die soziale Wirkung ihres Unternehmens und integriert deshalb die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen in ihr Geschäftsmodell. Durch inklusive Innnovation, wie es die Fachleute bezeichnen.

Kühlschränke ohne Strom und Prothesen vom Schreiner

Ein überzeugendes Beispiel für diesen Ansatz ist auch die Klinikkette Narayana Hrduyalaya. Ihr Ziel, chirurgische Eingriffe am Herzen für einen großen Teil der indischen Bevölkerung möglich zu machen, zu einem Bruchteil der Kosten wie in den USA oder in Europa. Das Ziel scheint beinahe erreicht. Die indischen Chirurgen benötigen dafür nur noch circa 2.000 Euro, etwa 10 Prozent des Betrags, der dafür in Deutschland erforderlich wäre. Die Lösung sind weniger die geringeren Löhne indischer Herzchirurgen, sondern ein innovatives Geschäftsmodell. Es adressiert das Basisbedürfnis – Herzoperationen für alle – und weniger die bestmögliche medizinische Hightech-Lösung. Deshalb fließt in der Klinikkette kaum Geld in teure Gebäudesubstanz, OPs werden ohne Klimaanlage gebaut und Materialkosten werden durch den Einkauf höherer Stückzahlen reduziert.

Ein weiteres Beispiel aus Indien ist der Kühlschrank Mitti Cool, der von einem indischen Handwerker entwickelt wurde und ohne elektrischen Strom betrieben werden kann. Oder die kostengünstige, aber ungemein leistungsfähige Fußprothese Jaipur Foot. Sie wird inzwischen weltweit von 1,5 Millionen behinderter Menschen getragen und wurde von einem indischen Chirurgen entwickelt, gemeinsam mit einem Handwerker, der lediglich vier Jahre Schulbildung genossen hatte.

Indischer Junge vor Vodafone Signet

Die Formel für Innovationen in Indien: Mit wenig Ressourcen und einfachen Methoden Fortschritt für viele. © Foto: Jasmin Trails – Pixabay

Das Konzept der inklusiven Innovation geht deutlich weiter als der inzwischen weltweit diskutierte Ansatz der frugalen Innovation. Letzterer ist ebenfalls ressourcensparend und bietet Produkte und Dienstleistungen zu günstigen Preisen an, stellt aber die Profitabilität und die Performance eines innovativen Unternehmens in den Vordergrund. Inklusive Innovation zielt dagegen in erster Linie auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländern. Die Lösungen haben dabei häufig mehrere positive Nachhaltigkeitseffekte, etwa indem sie Kunden mit kleinem Budget einen Zugang zu hochwertigen Produkten und Dienstleistungen ermöglichen und oft auch ökologisch sinnvoll sind. Als Geschäftsmodell vereint inklusive Innovation Profitabilität und gesellschaftliche Nachhaltigkeitsziele. Eine größere Gruppe bisher ausgeschlossener Menschen profitiert davon und die Produkte bzw. Lösungen sind im Gegensatz zu typischer Billigware aus Massenfertigung sowohl nützlich für den täglichen Gebrauch als auch umweltfreundlich.

Grassroot-Strategie für Erfolge im Großen

In den vergangenen Jahren werden Beobachter auf der ganzen Welt staunende Zeugen des faszinierenden wirtschaftlichen Aufstiegs Asiens und der Verbesserungen der dortigen Lebensindikatoren. So steigt in ganz Asien nicht nur die Lebenserwartung, zunehmend sind seine Bewohner auch in der Lage, am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben aktiv teilzuhaben. Als ein Schlüsselfaktor wurden dabei inklusive Innovationen identifiziert.

Eine wichtige Rolle spielt offensichtlich die sogenannte Jugaad Innovation, auch Grassroot Innovation oder Grassroot Frugal genannt. Dabei werden zunächst improvisierte Lösungen mit limitierten Ressourcen entwickelt. „Jugaad“ stammt aus dem Hindi und meint eine improvisierte Lösung, die aus Genialität und Klugheit schöpft. In den Industrienationen finden sich solche Ansätze vorwiegend in der Do-It-Yourself-Bewegung und im sogenannten Maker Movement. Jugaad Innovationen wurden bislang vorwiegend von einzelnen Personen getrieben, die Bedarf an kostengünstigen Lösungen sehen und mit den selbst verfügbaren Mitteln erarbeiten.

Innovationsphilosophie vom Kopf auf die Füße stellen

Seit einem Jahrzehnt in der Innovationswissenschaft diskutiert finden sie zunehmend das Interesse von Entscheidungsträgern. Das Potenzial inklusiver Innovationen in der Länderregion Asien ist immens. Von dem ungewöhnlichen Ansatz könnten auch gestandene deutsche Unternehmen profitieren, vorausgesetzt sie denken Innovationen in Teilen anders, als sie es bisher gewohnt sind. Vielleicht schauen sie dabei auf die jungen Unternehmen der Schwellenländer. Bislang wird in Deutschland und Europa in der technologischen Innovationsentwicklung noch immer mehr Wert auf Exzellenz, komplexe Funktionalitäten und die Ansprüche von einkommensstarken Konsumentengruppen gelegt. Innovationen sind vielfach darauf fokussiert, Hochtechnologie zu perfektionieren, anstatt sie breiten Bevölkerungsgruppen und weniger Privilegierten zugänglich zu machen. Wie mein Kollege Falk Steiner vor kurzem an dieser Stelle treffend feststellte, handelt es sich zudem häufig um „Convenience Produkte“ ohne gesellschaftlichen Nutzen.

Eine Studie des Fraunhofer ISI für die Europäische Kommission über das Potenzial solcher Ansätze kam vor zwei Jahren zu dem Schluss: Europäische Industrieunternehmen könnten ihre Innovationskraft erheblich steigern, wenn sie Modelle wie frugale und inklusive Innovation in ihr Portfolio aufnehmen. Allerdings müssen deutsche Manager dafür liebgewordene und fast schon triviale Fragestellungen vom Kopf auf die Füße stellen lernen: Für welche Anforderungen und Bedürfnisse innovieren wir eigentlich?

Indische Bauern bei der Landarbeit mit einer Zugmaschine

Innovationen mit wenig Hightech, aber effektiv. © Foto: Nandhu Kumar – Pixabay

Bei inklusiver Innovation lautet die Antwort: Es sind in erster Linie die Möglichkeiten und Rahmenbedingungen unserer Konsumenten und Kunden, ihre und unsere gemeinsamen Ressourcen. Funktionalitäten werden auf einen tatsächlichen und unmittelbaren Bedarf zugeschnitten und auf ihre wichtigsten Anwendungen komprimiert. Ein hoher Qualitätsanspruch bleibt gewahrt, aber Ressourcen und Entwicklungskosten werden eingespart. Produkte und Dienstleistungen können preisgünstiger angeboten werden, sie erreichen unterprivilegierte Schichten, schonen Ressourcen oder schaffen Einkommen für neue Bevölkerungsgruppen.

Bis zum Jahr 2010 wird Asien allein nach Berechnungen des McKinsey Global Institutes 40 Prozent des weltweiten Konsums ausmachen. Doch der Bedarf für Produkte und Lösungen besteht nicht nur in sogenannten Schwellenmärkten, sondern auch in Europa. Um ein inklusives, nachhaltiges Wachstum zu fördern, können erfinderische Innovationskonzepte, deren Mechanismen und Originalität in Ländern wie Indien zu Hause sind, ein bedeutender Baustein sein. Unternehmen aus asiatischen Ländern haben aber inzwischen deutlich mehr Erfahrung, Produkte für einkommensschwache Verbraucher zu entwickeln. Diesen Wettbewerbsvorteil können sich deutsche und europäische Hersteller im Kontakt mit der südostasiatischen Welt bewusst machen und lernen, über Innovation neu nachzudenken.

Eine Hilfestellung und zusätzliche Orientierung für Unternehmer, Wissenschaftler und Entscheider könnte dabei der 2019 erschienene „Inclusive Innovation Atlas“ der Bertelsmann Stiftung leisten. Bisher fehlte eine empirische Erfassung von inklusiver Innovation, da sich ihre Kraft und sozioökonomische Wirkung in einem lokalen, informellen Sektor schwer messen lässt. Die Studie analysiert dies anhand von 72 Indikatoren und liefert konkrete Belege für die wichtigsten Erfolgsfaktoren in 21 asiatischen Ländern. So kann er erstmals das Potenzial dieser asiatischen Länder für inklusive Innovation ausweisen. Ein Land muss demzufolge über zwei Voraussetzungen verfügen, damit inklusive Innovationen gedeihen können: Einerseits bedarf es eines gewissen sozialen, ökonomischen oder ökologischen Problemdrucks. Andererseits muss ein Land über befähigende Faktoren verfügen – wie zum Beispiel stabile Institutionen. Der Atlas zeigt im Ergebnis Indien als Spitzenreiter, wenn es darum geht, eine innovationsgetriebene Wirtschaft voranzubringen, die allen Bevölkerungsteilen zugutekommt.

Inklusive Innovation in Asien

In Indien kommt ein großer Bedarf an neuen Ideen mit bereits vorhandenen gesellschaftlichen und strukturellen Voraussetzungen zusammen. Der indische Subkontinent ist damit gewissermaßen ein natürliches Umfeld für das Gedeihen von „inklusiver Innovation“. Bereits heute gibt es in Indien schätzungsweise zwei Millionen Sozialunternehmen. (Siehe dazu unsere Studie Sozialunternehmen in Indien)

Der „Inclusive Innovation Atlas“ schafft eine empirisch gestützte Orientierung für Politik und Zivilgesellschaft, für Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit, für Sozialunternehmer und Start-up Gründer, aber auch für Mittelständler und Großunternehmen, die sich im Bereich „inklusiver Innovation“ engagieren wollen. Er beleuchtet eine noch zu wenig beachtete Strategie gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung.

Einige Analysten sprechen bereits von einem unaufhaltsamen Paradigmenwechsel. Das Weltwirtschaftsforum in Davos verschreibt sich 2020 in seinem Manifest dem Ziel eines „gerechten Kapitalismus“ und plädiert für ein neues Unternehmertum mit einer nachhaltigen Wertschöpfung. Der Begriff „Inklusive Innovation“ kann unter dieser Zielsetzung als kluge Verbindung von Wachstum sowie einer gerechten und nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung gelten. Das Konzept vereint unternehmerische Rentabilität, gesellschaftlichen Nutzen für alle und eine nachhaltige, ökologische Entwicklung. Mit anderen Worten: „more for more for less“.

*Schöpfer dieser Formel sind die indischen Autoren Navi Radjou and Jaideep Prabhu in ihrem Buch „Frugal Innovation: How to do more with less”.

 

In einem Vortrag bei einer TED-Konferenz erläutert Navi Radjou anhand konkreter Beispiele die Philosophie und das Potenzial frugaler bzw. inklusiver Innovationen auch für Unternehmer im Westen.

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