Martin Spilker
29. Juni 2020

„Viele Köpfe ans Denken bringen“

Vor 99 Jahren wurde der Unternehmer und Stifter Reinhard Mohn geboren. Schon sehr früh hatte er grundlegende Voraussetzungen von Innovation erkannt: Das Vertrauen in die Kreativität, Eigenverantwortung und Motivation der Mitarbeiter.

In vielen seiner Vorträge wurde Reinhard Mohn, den die „ZEIT“ als „Jahrhundert-Unternehmer“ würdigte, nicht müde, eine Forderung als wichtigen Teil einer partizipativen Unternehmenskultur zu formulieren: „Wir müssen viele Köpfe ans Denken bringen…“ Diese Forderung steht geradezu symbolisch für seine Führungsphilosophie. Denn das eigentliche Vermächtnis und die Botschaft des 2009 verstorbenen Unternehmers, Bürgers und Stifters Reinhard Mohn an Führungskräfte ist der damit einhergehende Vertrauensvorschuss.

Wenn heute über die mangelnde Innovationskraft in Deutschland oder Europa im internationalen Vergleich geklagt wird, dann gerät oft vor dem Hintergrund staatlicher Investitionsprogramme oder von Förderungsinitiativen für Gründer in Vergessenheit, dass oft die Bedingungen in Organisationen darüber entscheiden, ob und inwieweit eine leistungsfördernde, kreative Arbeitsatmosphäre existiert. Dazu braucht es in erster Linie das entsprechende Mindset in den Führungsetagen.

Während manche Organisationen noch ihr Heil im Ausbau ihrer Forschungs- und Entwicklungsabteilungen suchen, was durchaus seine Berechtigung haben kann, stellte Mohn die Mitarbeitenden in den Mittelpunkt. Irgendwo werde schon jemand im Unternehmen wieder eine kluge Idee haben, die dann zu neuen Produkten oder Geschäftsmodellen führe, wird Mohn zitiert, denn so sein Credo, die Mitarbeitenden vor Ort in den Märkten wüssten doch am besten, was die Kunden wünschten.

Wenn wir also heute über die Stärkung von Innovationen nachdenken, dürfen wir die treibende Kraft des Unternehmertums mit einer inspirierenden Unternehmenskultur nicht vernachlässigen. Sie müssen Teil des Werkzeugkastens für Führungskräfte zur Förderung von Innovationen sein. In diesem Sinne ist die Führungsphilosophie von Reinhard Mohn aktueller denn je! Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft sollten diese Wirkmechanismen in ihren Überlegungen nicht ausblenden.

Augenscheinlich mangelt es den Führungskräften in Deutschland aber gerade an den Bedingungen für eine wirksame Führung laut „Führungskräfte-Radar“ der Bertelsmann Stiftung. Nicht nur, dass lediglich 60% eine strategische Relevanz für die Digitalisierung in ihrem Unternehmen wahrnehmen. Ein Drittel der Führungskräfte klagt mittlerweile über erhebliche Selbstzweifel, ob sie unter diesen Umständen überhaupt noch führen wollen. Gründe: Belastung, Bürokratie und Zieldiffusion.

Denn Kern der Führungsphilosophie Reinhard Mohns blieb immer das Ausprobieren, verbunden mit der Neugier, dass man alles immer noch etwas besser machen kann. Hat sich etwas bewährt, wird es übernommen, hat es sich nicht bewährt, lässt man es sein oder passt es im nächsten Versuch. Was man heute in der Lab- oder Start-up-Szene als Prototyping bezeichnet, hieß bei Reinhard Mohn: „Wir fangen mal an, schauen wie weit wir bis dahin kommen, dann sehen wir weiter!“

Es bleibt – wie oben erwähnt – das herausragende Merkmal der Führungsphilosophie Reinhard Mohns, Führungskräften und Mitarbeitenden diesen Vertrauensvorschuss entgegenzubringen: dabei eher Leitplanken zu formulieren statt detaillierter Vorgaben, dabei eher Visionen aufzuzeigen statt kleinteiliger Ziele. Natürlich war auch Mohn klar, dass dazu ein Informations- und Berichtswesen gehört nach dem Motto: Was war geplant, wo stehen wir jetzt. Abweichungen bitte kommentieren.

Unternehmerische Freiräume und Eigeninitiative bedeuteten auch bei ihm nicht, dass jeder machen konnte, was er wollte. Trotzdem war Reinhard Mohn im tiefsten Inneren der Überzeugung, dass die Entstehung von Innovationen und damit der unternehmerische Erfolg auf der Delegation von Verantwortung in dezentralen Strukturen, der Mitsprache am Arbeitsplatz und Beteiligung am Erfolg sowie dem eingangs zitierten Motto „Viele Köpfe ans Denken bringen“ basieren.

Wird heute – schon fast inflationär – davon gesprochen, dass nicht nur Unternehmen einen „Purpose“ brauchen, sondern auch die Mitarbeitenden nach Möglichkeit einen Sinn in ihren Tätigkeiten finden sollten, war dies auch Reinhard Mohn schon bewusst. Seine Führungsphilosophie basiert auf der grundlegenden Überzeugung, dass die Identifikation mit dem Unternehmen, mit seinen Zielen und den eigenen Aufgaben die Motivation und Kreativität freisetzt, um im Wettbewerb erfolgreich zu bestehen.

Die Dezentralität auf der Basis von Profit Center-Strukturen im Unternehmen löste auch intern eine unternehmerische Dynamik aus.  So stand es jedem Geschäftsführer frei, externe Partnern zu beauftragen, wenn intern nicht adäquate Qualitäts- oder Preismaßstäbe angeboten wurden. Geschäftsführer auf beiden Seiten waren also zum unternehmerischen Denken und Handeln angehalten: die einen, um interne Aufträge zu ergattern; die anderen, um günstige Konditionen zu erhalten.

Dabei war Mohn weit entfernt davon, Unternehmenskultur und Führungsinstrumente einfach auf dem Reißbrett theoretisch zu planen. Für ihn stand das Ausprobieren neuer Ideen im Vordergrund. Ihm wurde schnell deutlich, dass es dafür allerdings des Freiraums bedurfte. Gewähren heute Unternehmen Teile der Arbeitszeit dazu, nutzte Mohn hierfür ausgedehnte Spaziergänge oder zog sich in sein Büro zurück, um in Ruhe Gedanken zu ordnen. „Ich denke gern“ – ist eine überlieferte Aussage.

Es entsprach der Führungsphilosophie Reinhard Mohns, dass jeder Mensch gemäß seiner Kompetenz, Erfahrung und Werte und im Rahmen seiner Aufgaben Ideen einbringen kann und innerhalb seines Verantwortungsbereiches Lösungen realisieren sollte, um so zum Unternehmenserfolg beizutragen. Dabei folgte er dem Motto: „Von der Welt lernen“. Irgendwo auf der Welt gäbe es bestimmt schon interessante Modelle oder bewährte Lösungsansätze, so seine Überzeugung.

Der Erfolg einer partnerschaftlichen Unternehmenskultur bemisst sich nicht nur an der Umsetzung moderner, unternehmensübergreifender Kooperationsformen, sondern durch ein offenes Konfliktmanagement im Unternehmensalltag. Daher bleiben Artikulation und Respekt unterschiedlicher Meinungen ein zentrales Element seiner Führungskultur. Dazu gehörten dann auch die regelmäßige Einbeziehung und gezielte Konsultation mit den Betriebsräten als wichtiges Sounding-Board.

Partnerschaft bedeutete für ihn stets, in einer Gemeinschaft mit Rechten und Pflichten zu agieren, was immer ein Geben und Nehmen beinhaltet. Die Gestaltung der Unternehmenskultur bedeutet, das Zusammenwirken der einzelnen Beteiligten im und mit dem Unternehmen zu gewährleiten. Führung ordnete Mohn in einen umfassenden Kontext ein. So formulierte er in Anlehnung an den Management-Vordenker Peter Drucker, dass als oberstes Ziel eines Unternehmens der Leistungsbeitrag für die Gesellschaft stehen sollte.

Heute ließe sich daraus ein Bezugsrahmen für eine nachhaltige Unternehmensführung bilden – nämlich: (1) Mitarbeitenden anständige Arbeitsbedingungen zu bieten, (2) den Kunden einen ausreichenden Nutzen zu stiften, (3) die Geschäftspartner fair zu behandeln und (4) Gesellschaften mit ihren Kulturen und Gesetzen zu respektieren. Gewinne – so formulierte er es oft in seinen Büchern oder Vorträgen – sind kein Selbstzweck, sondern lediglich ein Maßstab für unternehmerischen Erfolg.

Gleichzeitig hatte bei ihm die Sicherung der Kontinuität des Unternehmens absolute Priorität. Dabei war ihm deutlich, dass das Überleben des Unternehmens unter Umständen schwierige unternehmerische und persönliche Entscheidungen erforderte. Bei der Umsetzung von Entscheidungen ging es dann weniger um das „Was“, sondern um das „Wie“. Wurden die Werte des Unternehmens berücksichtigt? Ist man trotz allem wertschätzend miteinander umgegangen?

Gerade deshalb verknüpfte er Zeit seines Unternehmerlebens immer Unternehmertum mit Verantwortung. Reinhard Mohn sah sich in einer Vorbildfunktion, in dem er durch seine Werte und Haltung, sein Auftreten und Verhalten Führung und Mitarbeitenden Orientierung gab. Es war seine Bescheidenheit, aber auch Gradlinigkeit, Urteilsfähigkeit, Disziplin und Verlässlichkeit, die der Person Reinhard Mohn Integrität verlieh. Eitelkeiten waren ihm suspekt. Inhalt und Ergebnis standen im Vordergrund.

Man darf nicht unterschätzen, welche Anziehungskraft solch´ eine innovative Umgebung auf kreative, unternehmerisch denkende und handelnde Menschen ausüben kann. Die frühzeitige Übertragung von unternehmerischer Verantwortung ist nicht nur ein Schlüssel für Innovation, sondern macht Organisationen für junge Menschen attraktiv. Es ist die Daueraufgabe von Führung, motivierende und innovationsfördernde Arbeitsbedingungen zu schaffen. Auch in Zeiten von New Work.

Mohn hat früh erkannt, dass Freiraum und Delegation Kreativität freisetzt und Innovationen begünstigt. Dazu brauchen Menschen eine verlässliche Struktur und ethischen Kompass. Er besaß die Zuversicht in die Lösungskompetenz der Menschen und schätzte die inspirierende Kraft des sachbezogenen Dialogs. Er sah damit eine Verantwortung von Unternehmen in der Gesellschaft für die Förderung von Innovation und Wachstum und damit für Beschäftigung und Wohlstand.

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