Disrupt Yourself

Disrupt Yourself!

Der digitale Tornado

Die Pointe kennen wir: Das größte „Taxiunternehmen“ der Welt besitzt kein einziges Fahrzeug, das größte „Reiseunternehmen“ kein einziges Hotel, und schon lange sind es nicht die Musikdienste selbst, die ihren Content produzieren. Derartige Konstellationen sind die Realität unseres (Geschäfts-) Alltags geworden: die Disruption bestehender Geschäftsmodelle und Branchen. Der „digitale Tornado“ stellt ganze Industrien auf den Kopf. Mit dem Siegeszug des E-Commerce begann das im Handel schon vor etwa 20 Jahren, und in der Medien- und Unterhaltungsbranche stürmt der digitale Tornado bis heute.

Auch in der Bankenwelt wird mittlerweile ganz schön Staub aufgewirbelt. Das hat Auswirkungen auf ganze Organisationen, deren Geschäftsmodelle unter Druck geraten. Vor allem aber hat es Auswirkungen auf die dort arbeitenden Menschen. Nachvollziehbar also, dass das Thema „Resilienz“ in der HR-Welt enorm an Bedeutung gewonnen hat. Resilienz ist unsere Fähigkeit, mit herausfordernden Situationen und schwierigen Geschäftsphasen umzugehen und dabei gesund und in Balance zu bleiben. Aber was genau bedeutet das? Oft wird Resilienz als „Widerstandskraft“ verstanden – von der lateinischen Wortbedeutung her als die Fähigkeit, etwas an sich „abprallen“ zu lassen.

Aber ist es tatsächlich einfach ein dickeres Fell, das wir in den heutigen Zeiten brauchen? Denn das wiederum steht im Widerspruch zur sogenannten „hyper awareness“, die als erforderlich gilt, um in einem volatilen, sich ständig verändernden Umfeld erfolgreich zu sein. Sie soll dabei helfen, interne und externe Entwicklungen und Trends schnell zu erkennen und entsprechend reagieren zu können. Zwickmühle also? Nicht unbedingt. Denn losgelöst von Etymologie und dem landläufigen Verständnis möchte ich Resilienz anders verstanden wissen. Es geht für uns als Mitarbeitende nicht um Widerstandskraft („hardiness“), sondern darum, die Quelle dessen zu finden, was uns in aller Veränderung unterstützt, antreibt und zufrieden macht. Nennen wir es einfach unseren „Purpose“.

Disruption als Konstante

Zunächst müssen wir den Kontext unseres (Geschäfts-) Alltags so akzeptieren, wie er ist. Wir sehen seit gut 20 Jahren, dass die digitale Disruption von Branchen und Geschäftsmodellen kein Phänomen des Augenblicks, sondern eine Konstante geworden ist. Es ist kein Kampf gegen die GAFAs, also die Internetgiganten Google, Apple, Facebook und Amazon (das Akronym könnte man beliebig erweitern, z. B. durch Netflix). Es ist vielmehr die neue Basis fürs Geschäft. Digitale Endgeräte, Sensorik, real-time Datenaustausch und Breitbandnetze sind allgegenwärtig verfügbar. Sie bieten ganz neue Möglichkeiten, die inzwischen jeder mitdenken muss. Mag sein, dass die Initiative von Facebook und anderen, mit Libra eine neue Währung zu schaffen, zunächst gescheitert ist. Mag sein, dass Bitcoin & Co. aktuell noch Nischenprodukte sind. Aber die Disruption unseres traditionellen Geld- und Zahlungsverkehrs ist damit noch lange nicht beendet. „It‘s about the disruption – not the disruptor!“ Wir leben in Zeiten digitaler Transformation. Disruption als Prinzip der Wirtschaft wird bleiben und sich nicht einfach wieder legen. Es handelt sich nicht nur um eine Phase. Wir brauchen also eine nachhaltige Antwort, was das für Organisationen und deren Mitarbeitende bedeutet.

Insbesondere die Geschehnisse der letzten Monate und Wochen, die politischen Maßnahmen auf die Ausbreitung von Corona, zeigen mit gnadenloser Deutlichkeit, wie schnell und unvorhersehbar unsere Welt sich ändert. Wir werden dadurch herausgefordert, noch schneller auf sich verändernde Kontexte zu reagieren. Wir müssen in kürzester Zeit Antworten auf Trends und Fragestellungen finden, die uns schon länger begleiten. Zudem ist der Druck groß, eine Form der Digitalisierung voranzutreiben, die den Menschen und der Gesellschaft dient. All das in „fast-forward“!

Disrupt Yourself?

Was bedeutet das nun für uns alle als Individuen? Müssen wir uns laufend selbst in Frage stellen und neu erfinden? Müssen wir ultimativ flexibel sein und uns auf alles einlassen, was gerade gefordert wird? Und wie lässt sich dabei die Resilienz aufrechterhalten, um in Balance zu bleiben? Klingt erst mal nicht so leicht, wenn ich ehrlich bin – insbesondere, wenn ich an die Veränderungen denke, die in den 15 Jahren meiner Berufslaufbahn passiert sind. Die Herausforderungen sind vielfältig. So gibt es in vielen Unternehmen – auch bei uns in der ING – schon seit einigen Jahren keine Einzelbüros mehr. Das hat Kommunikations- und Entscheidungswege verkürzt, verlangt aber auch ein hohes Maß an Eigenverantwortung. Man darf sich selbst nicht aus dem Auge verlieren, wenn man den Kollegen über die Tischgruppe hinweg mal wieder eine kurze Frage beantwortet.

Der räumliche Kontext des Zusammenarbeitens hingegen hat sich weiterentwickelt, und zwar um die Möglichkeiten, von zu Hause oder von unterwegs zu arbeiten. Telefon- oder Videokonferenzen sind Normalität, was auch die Zusammenarbeit mit globalen Ansprechpartnern einfacher und schneller macht. Und durch die flächendeckende Verbreitung von mobilen Endgeräten im Arbeitsalltag (vor 15 Jahren war ein Smartphone mit E-Mail-Client ein Statussymbol des Senior Managements!) gilt auch auf der Arbeit die Etikette der sozialen Netzwerke: E-Mail-Kommunikation ist in der Taktung schon längst beim Instant Messaging angekommen. In diesem Kontext bietet die aktuelle Situation das perfekte Live-Experiment: Wer weiß, welche Erkenntnisse wir aus den letzten und kommenden Wochen ziehen werden – aus einer Zeit, in der große Teile der Wirtschaft „remote“ gearbeitet haben?

Brauchen wir dann also doch ein „dickes Fell“, um dieses Tempo auszuhalten? Ich glaube, auch wir persönlich müssen zunächst einmal Veränderung als Konstante unseres Alltags akzeptieren. Und Unternehmen haben die Aufgabe, ihre Mitarbeitenden auf dieser Reise zu begleiten. Dabei sollten sie durchaus immer wieder konstruktiv-kritisch herausgefordert werden; gleichzeitig sollten aber auch Angebote gemacht werden, um Laufbahnen in der digitalen Transformation immer wieder neu ausrichten zu können.

Discover Yourself!

Bei der ING Deutschland haben wir agiles Arbeiten und eine grundlegend neue Organisationsform bankweit eingeführt. Auslöser war die digitale Transformation der Branche. Wir wollten proaktiv einen Schritt vorausgehen, um Kundenbedürfnisse besser aufnehmen, schneller bedienen und unsere Produkte sofort skalierbar machen zu können. Ziel war es auch, funktionale Silos abzubauen. Wir haben Einheiten – sogenannte Tribes – geschaffen, die sich autonom um ein gemeinsames Purpose herum organisieren. Dabei haben wir Business und IT-Ressourcen gebündelt. Das ermöglicht eine Gesamtverantwortung im Tribe für ein Produkt oder eine Kundenlösung, und zwar vom Anfang bis zum Ende. Für mich ist hier der Begriff Purpose ganz entscheidend. Eine Organisation im klassischen Sinne wird durch Zielvorgaben und deren hierarchische Einforderung angetrieben; eine Gemeinschaft wiederum (eher im Sinne einer Familie oder eines Vereins) durch ein gemeinsames „Anliegen“ – wie Prof. Hüther es so schön formuliert.

Was für einen Tribe gilt, gilt genauso für jeden Mitarbeitenden. Die Veränderung als Prinzip muss also aufbauen auf einer ganz altmodischen „Selbsterkenntnis“: Ich muss mein persönliches Anliegen erst entwickeln und muss herausfinden, was mich als Menschen im Leben antreibt. Diese Erkenntnis fällt nicht einfach vom Himmel, sondern ist ziemlich unbequeme Arbeit in der Auseinandersetzung mit der eigenen Person. Bei der ING Deutschland begleiten wir Menschen bei diesem Prozess, z. B. mit Hilfe unseres „Think Forward Leadership“ Programms, aber auch durch unser „Stärkenprofil“, das wir jedem Mitarbeitenden als Online-Survey anbieten. Wir sind außerdem überzeugt davon, dass die Jobprofile der Zukunft deutlich mehr „T-Shape“ – also nicht nur Spezialistenwissen aus dem eigenen Fachgebiet, sondern auch Wissen aus anderen Disziplinen – verlangen als heute. Nicht zuletzt spielen natürlich auch digitale Fertigkeiten eine immer größer werdende Rolle.

Change Yourself!

Daher haben wir tarifvertraglich ein Weiterbildungsbudget für jeden Mitarbeitenden der ING Deutschland vereinbart. Damit kann jeder selbst die Verantwortung für die eigene Entwicklung in die Hand nehmen. Darüber hinaus haben wir ein internes Quereinsteigerprogramm aufgelegt, um Menschen mit Freude an IT-nahen Tätigkeiten den internen Wechsel zu ermöglichen. Der eigene Ausbildungshintergrund, das Lebensalter oder das Karrierelevel sind dabei egal. Denn am Ende gilt: Zielvorgaben bringen mich nur bis zum nächsten Jahresgespräch, aber ein Purpose hilft mir, mein Leben und meine berufliche Laufbahn als Ausdruck eines persönlichen Anliegens zu gestalten. Und dann bedeutet die vielleicht spitz anmutende These „Disrupt Yourself!“ nicht nur, sich der erlebten Bedrohung von Geschäftsmodellen zu stellen; sie bedeutet auch, die Abenteuermöglichkeiten in seinem (Arbeits-) Leben zu entdecken und sich mit Vorfreude auf die Reise zu machen.

Die Entwicklungen der letzten Wochen zeigen uns nicht nur, in welchem Tempo wir die Digitalisierung vorantreiben müssen. Sie veranschaulichen auch, wie stark und mächtig der Gedanke eines Purpose, eines gemeinsamen Anliegens ist. Denn es ist der Purpose vieler Menschen, der sie aktuell weiterhin solcher Arbeit nachgehen lässt, die nicht digital erbracht werden kann: nämlich in den Kliniken, im Lebensmitteleinzelhandel, im öffentlichen Transportwesen und vielen anderen Bereichen. Auch im Alltag dieser Mitarbeitenden passieren ständig unvorhergesehene Dinge, die Resilienz erfordern und wo Rückbesinnung auf ein persönliches, übergeordnetes Ziel hilft, Fokus zu behalten. Vielleicht lehren uns die Herausforderungen durch Corona, bei der Disruption der Arbeitswelten zukünftig stärker auf zwei Aspekte zu achten: Vorantreiben der Digitalisierung sowie gleichzeitig Achtung und Respekt für nicht-digitale Arbeit.



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