Homeoffice

Vertrauen ist keine betriebswirtschaftliche Kategorie – Verantwortung auch nicht

Dieser Beitrag ist in dem Buch „Unternehmensverantwortung im Digitalen Wandel – Ein Debattenbeitrag zu Corporate Digital Responsibility“ erschienen. Zum Buch geht es hier entlang.


 

Digitalisierung gilt als ein wichtiges Mittel der Problemlösung für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Für Eltern und Menschen mit pflegebedürftigen Angehörigen, die zeitlich und räumlich flexibel arbeiten können und somit über eine größere Zeitsouveränität verfügen, sei die Balance zwischen Job und familiären Anforderungen selbstbestimmt und eigenverantwortlich sehr gut lösbar. Zumindest in der Theorie.

Seit Jahren befeuert der Wunsch, qualifizierte Mütter/Eltern mit kleineren Kindern wieder als Fachkräfteressource nutzen zu können, die Diskussion um flexiblere Arbeitszeiten und Homeoffice. Für Lehrkräfte an den (Hoch-)Schulen und ähnlichen Einrichtungen gab es schon immer »Homeoffice« – auch als dieser Begriff noch gar nicht gebräuchlich war. Das Steuerrecht kennt die Absetzbarkeit der Kosten eines Arbeitszimmers ebenfalls seit Langem. Mit neuen technischen Möglichkeiten für mobiles Arbeiten und zunehmender Frauenerwerbstätigkeit ergaben sich für weitere Berufsgruppen neue Optionen. Die Idee von Eltern, ursprünglich oft als Notlösung bei Krankheit des Kindes entstanden, regelmäßig Homeoffice zu nutzen, hat jedoch auch dazu geführt, dass dies einerseits den Beigeschmack von reduzierter Arbeitsleistung hat – »nebenbei« muss ja noch ein krankes Kind beaufsichtigt werden – und andererseits Eltern diesem stummen Vorwurf entgegenwirken wollen, indem sie wesentlich mehr Leistung erbringen, als eigentlich nötig wäre, und sie trotzdem das Gefühl haben, sich für Homeoffice entschuldigen zu müssen (WSI 2019).

Obwohl familiäre Pflichten und Belastungen der Ausgangspunkt für den Wunsch nach flexiblem und mobilem Arbeiten sind, steigt paradoxerweise gleichzeitig die Zahl der Überstunden (RKW 2019: 20). Bei der Inanspruchnahme familienfreundlicher betrieblicher Angebote werden unter anderem eine »schlechtere Bewertung der Leistung durch Vorgesetzte«, »die Gefährdung der Karriere« und »weniger attraktive Arbeitsangebote« befürchtet (Kaearney 2014: 77 ff.). Dies wandelt sich schrittweise mit neuen Selbstverständlichkeiten des digitalen Arbeitens, aber wie immer nur allmählich und in schon lange bestehenden Unternehmen und Behörden nur langsam.

Wunsch und Wirklichkeit

In Deutschland arbeiten im Vergleich zu anderen europäischen Ländern und vor allem verglichen mit Skandinavien nur wenige Beschäftigte im Homeoffice (Deutschland 11%, Skandinavien 27,5%) (BMFSFJ 2016: 12) – und wenn, dann vor allem jene in größeren Unternehmen (ebd.: 17). Sowohl Unternehmen als auch Beschäftigte sehen im Homeoffice überwiegend eine Erleichterung der Vereinbarkeit (ebd.: 20); Hauptargument für die Nichteinführung bzw. Nichtnutzung ist die bestehende Arbeitskultur (ebd.: 32). Bereits 2011 gaben rund 50 Prozent von circa 1.000 Befragten an, dass sie »gerne von Zuhause oder einem anderen Ort als dem Büro arbeiten« würden (BMFSFJ 2014: 4). Die Zahl der Unternehmen, die Homeoffice/Telearbeit für wichtig halten, ist wesentlich höher als die der Unternehmen, die dies tatsächlich anbieten (BMFSFJ 2018: 23). Und die bestehenden Angebote sind zudem weder allen Beschäftigten bekannt, noch können Beschäftigte sie aus allen Unternehmensbereichen gleichermaßen nutzen (ebd.: 19).

Hoffnungsvoll stimmt, dass es bei allen Teilangeboten (Teilzeit, individuell vereinbarte Arbeitszeit, flexible Tages- und Wochenarbeitszeiten, ortsunabhängiges Arbeiten durch mobiles Internet etc.) von 2015 auf 2018 Zuwächse gab (BMFSFJ 2019: 23). Für Beschäftigte mit zu pflegenden Angehörigen gelten diese Rahmenbedingungen sicher gleichermaßen, auch wenn dazu bisher kaum Datenmaterial erhoben wurde. Schon die Einsparung von Fahrtzeiten kann einen erheblichen Gewinn bedeuten. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass mobiles und flexibles Arbeiten selbst zu erheblichen gesundheitlichen Belastungen führen kann und damit vorhandene Belastungssituationen verstärkt (BAuA 2018).

Neue Möglichkeiten – neue Kompetenzen

Bei der Überführung von Homeoffice-Möglichkeiten von der punktuellen Notfallmaßnahme in den Regelbetrieb wird häufig unterschätzt, dass hierbei viele neue Anforderungen an Beschäftigte und Führungskräfte gestellt werden und es nicht um ein »weiter so am anderen Ort« geht (BMAS 2018: 16–32). Umfangreiche Empfehlungen wurden dazu bereits 2016 von der Plattform »Digitales Arbeiten« veröffentlicht (BMAS 2016). Genau an diesem Punkt beginnt ein Aspekt der Unternehmensverantwortung bei der Digitalisierung. Die Unternehmen müssen nicht nur die technischen Voraussetzungen (inkl. Datenschutz und Arbeitsschutz) schaffen, sondern auch Regeln für die Freiheit festlegen bzw. aushandeln und für Klarheit hinsichtlich notwendiger Kompetenzen von Mitarbeitern und Führungskräften sorgen. Anders ausgedrückt: Mobiles und flexibles Arbeiten erfordert bei Mitarbeitern und Führungskräften Kompetenzen, die bei deren Auswahl meist keine Rolle gespielt haben und in sehr unterschiedlichem Maße entwickelt sind.

Aktuell gibt es noch eine große Differenz zwischen dem Wunsch von Beschäftigten nach mobilem und zeitlich flexiblem Arbeiten und dessen Realisierungsmöglichkeiten (BMFSFJ 2019: 13 ff.). Bei dem oft unterschwelligen Vorwurf, die Diskrepanz beruhe auf dem Unwillen der Arbeitgeber, wird oft darüber hinweggesehen, dass auch die Beschäftigten über bisher weniger benötigte Kompetenzen verfügen müssen. Ein hohes Maß an Selbstorganisation, Selbstmotivation ohne direktes Feedback, effizientes Arbeiten und Kommunikation sind ebenso Voraussetzungen wie der Selbstschutz vor Überarbeitung und die eigenverantwortliche Organisation der Balance von Arbeit und Privatleben (BMAS 2016: 10 ff.).

Gerade Beschäftigte, die tagtäglich intensiv Sorge für Angehörige tragen – egal in welchem Alter diese sind –, verfügen über viele Kompetenzen, die jetzt im Arbeitsleben eine größere Bedeutung als vorher erlangen. Zielpersonengerechte Kommunikation, häufig wechselnde Bedürfnisse, gemeinschaftliches Suchen nach Lösungsmöglichkeiten, unvorhergesehene Ereignisse, Aneignung von Wissen zu bisher weitab des Interesses liegenden Themenfeldern, Arbeitsorganisation und Zeitplanung, Selbstorganisation und Ressourcenmanagement und vieles andere. All das gehört zum Alltag von Eltern und pflegenden Angehörigen und führt zu neuen Kompetenzen (Junker und Lask 2019). Ob und wie die Chancen der Digitalisierung genutzt werden – und das umfasst weit mehr Änderungen in der Arbeitsweise als nur Homeoffice –, wird wesentlich abhängen vom coachenden und beziehungsfördernden Verhalten von Führungskräften beim gezielten (Weiter-)Entwickeln dieser notwendigen Kompetenzen (Schwarzmüller, Brosi und Welpe 2016).

Anwesenheit oder Ergebnis

Die zeitliche Quantifizierung von notwendiger Arbeitsleistung spielt erstaunlicherweise in vielen Organisationen bisher oft eine untergeordnete Rolle. Arbeitsmenge und zur Verfügung stehende Arbeitszeit – deren Verhältnis ist häufig über Jahre gewachsen. In vielen Fällen werden neue Stellen routinemäßig als Vollzeitstellen ausgeschrieben und gleichzeitig bei Unterbesetzung durch Arbeitsverdichtung vertretbare Ergebnisse realisiert. Führungskräfte müssen sich mit dem Verhältnis von Arbeitsaufwand und Nutzern neu auseinandersetzen. Wie viel Vertrauen bringe ich einem Mitarbeiter entgegen und in welchem Umfang erfolgt eine technisch mögliche Kontrolle von Arbeitszeit? Was zählt mehr – Arbeitszeit oder Arbeitsergebnis? Für Freiberufliche kann sich eine höhere Arbeitsintensität lohnen – aber wie ist es bei den Angestellten? Welche arbeits(schutz)rechtlichen Regelungen werden von wem wie kontrolliert? Wie erzeuge ich im Team ein Verständnis dafür, dass der Kollege oder die Kollegin im Homeoffice trotz Sorgeverpflichtungen gleichwertige Arbeit leistet?

Der Wandel von der Anwesenheits- zur Ergebniskultur, der auch innerhalb von Unternehmen und nicht nur für das Homeoffice wichtig ist, wird durch neue technische Möglichkeiten befördert, ist aber nicht durch sie erzeugt worden. Die derzeitigen Diskussionen um flexibles und mobiles Arbeiten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sind nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einem radikalen Kulturwandel des bisherigen Arbeitssystems.

Neue Führungskräfte gesucht

Digitalisierung als neue Art des Zusammenwirkens verändert alle Prozesse des Arbeitslebens und führt zwangsläufig zu vielfältigen neuen Anforderungen an Führung (RKW 2019: 48 ff.). Feste Projektstrukturen und langfristig geplante Arbeitspakete entsprechen nicht mehr den aktuellen Anforderungen. Auch wenn Arbeit nicht (immer/nie) zur gleichen Zeit am gleichen Ort geleistet wird, muss es eine Identifikation mit einem gemeinsamen Ziel geben, die von der Führungskraft zu schaffen ist. Die Schnelllebigkeit erzeugt ein steigendes Bedürfnis nach Verlässlichkeit, Vertrauen und Transparenz. Aufbauend auf den unterschiedlichen Kompetenzen der bisherigen Mitarbeiter, müssen gemeinsam Regeln entwickelt werden für die Kommunikation und die Toleranz der Diversität von Arbeitsweisen. Change Management, Motivation von Mitarbeitern, Austausch und kontinuierliches Lernen werden Schwerpunkt von Führung (KOFA 2019). Die differenzierten Erfahrungen und Lebensvorstellungen verschiedener Generationen, Geschlechter, Nationalitäten etc. – kurz: verschiedener Individuen – zu kennen und zu lenken, ist dafür Voraussetzung. Einen nicht zu unterschätzenden Vorteil haben Unternehmen, die sich schon länger und intensiv mit der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf beschäftigen, denn an diesem Thema haben sie den Umgang mit differenzierten Lebensentwürfen bereits üben können.

Die Wertediskussionen, die wir aus dem Bereich der Nachhaltigkeit kennen, müssen unternehmensintern initiiert und begleitet werden. Führungskräfte sind dabei sowohl Motor als auch selbst Betroffene und brauchen Anleitung sowie Unterstützung.

Weit über die Grenzen des Büros hinaus

Denken wir einmal über den Rand unserer Schreibtischarbeitsplätze hinaus. Bisher gilt überwiegend: »Der typische Beschäftigte, der zumindest manchmal mobil arbeitet, ist jung, männlich, hat einen Hochschulabschluss und arbeitet Vollzeit oder in vollzeitnaher Teilzeit« (Hammermann und Stettes 2016). Auch in naher Zukunft werden nicht alle Arbeitsaufgaben von Wissensarbeitern, die Wissen schaffen, teilen und nutzbar machen, erledigt werden. Doch Digitalisierung wird alle Arbeitsbereiche betreffen, wenn auch in unterschiedlichem Tempo.

Die Unterschiede zeigen sich bereits deutlich am Beispiel des Zugangs zum Homeoffice für die Bereiche Produktion, Handwerk, Service, Verwaltung, Dienstleistung und Vertrieb/Marketing, wobei ein erheblicher Unterschied zwischen Führungskräften und anderen Beschäftigten besteht (Grunau et al. 2019: 3). Produktionsmitarbeiter haben eine andere Ausgangsbasis und stellen ihre Führungskräfte vor andere Herausforderungen. Bei Veranstaltungen und in Publikationen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie werden häufig zuerst Beispiele für Büroarbeitsplätze präsentiert, die für Beschäftigte in Produktion, Handel, Gastronomie, medizinischer Versorgung und anderen Bereichen in der Regel nicht hilfreich sind.

Wandel in der Gesellschaft

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung weist darauf hin, dass in den nächsten Jahren bis zu zwei Millionen bisherige Arbeitsplätze durch Digitalisierung verschwinden werden (Zika et al. 2018). Andere, neue werden entstehen. Aber wo und welche – das wissen wir noch nicht genau (Matthes et al. 2019). Gleichzeitig besteht die Hoffnung, dass mehr Potenzial für den Menschen direkt zugewandte Arbeit entsteht – mit einem anhaltenden zusätzlichen Personalbedarf. Diese Transformationsprozesse gehören in den direkten Verantwortungsbereich von Unternehmen, gehen aber gleichzeitig darüber hinaus. Selbst wenn die Zahl der verloren gehenden Arbeitsplätze der Zahl der neu entstehenden entspräche, stehen die betroffenen Beschäftigten nicht einfach für die neuen Aufgaben bereit. Arbeitsaufgaben und Anforderungsprofile weisen erhebliche Unterschiede auf, die auch durch unternehmensinterne und/oder staatlich geförderte Qualifizierungen nicht von allen Beschäftigten kompensiert werden können. Unternehmensverantwortung endet nicht mit dem Ausscheiden von Beschäftigten aus dem jeweiligen Arbeitsverhältnis, sondern auch die weitreichenden Folgen des Verschwindens von Millionen Arbeitsplätzen gehören dazu.

Die durch die Digitalisierung steigenden neuen Kompetenzen und der Wandel der Bedeutung des physischen Arbeitsplatzes hin zu einem sozialen Ankerpunkt für zwischenmenschliche Interaktionen und Netzwerke wirken weit in die Gesellschaft hinein. Die positiven und negativen Erfahrungen von Menschen bei diesem Transformationsprozess zu begleiten, liegt ebenso in der Unternehmensverantwortung wie die Entwicklung des Gesundheitsbewusstseins und die Schaffung von Rahmenbedingungen für Gesundheitsvorsorge (Badura et al. 2018) und Arbeitsschutz (inkl. Kontrolle). Die Arbeitswelt wird so zu einem wichtigen, weil beispielgebenden Erfahrungsfeld für den Umgang mit notwendigen Transformationsprozessen. In diesem Sinne ist New Work wesentlich mehr als Digitalisierung und erzeugt neue Haltungen und ein neues Weltbild.

Lange Zeit hatte man – auch ich als Betroffene – das Gefühl, Philosophen seien eher entbehrlich. Die Beschäftigung mit moralischen Fragestellungen, also der Beurteilung unseres Handelns gemäß der Unterscheidung zwischen Gut und Böse, erlangt in Zeiten gesellschaftlicher Veränderungsprozesse wieder mehr Bedeutung, da unserem Handeln sonst die Richtung fehlt. Wenn wir den Anspruch erheben, den Prozess der Digitalisierung aktiv zu gestalten, agieren wir als Subjekte. Überall, wo ich gestalte, das heißt, wo ich entscheide – was voraussetzt, dass ich eine Wahl habe –, trage ich immer auch Verantwortung für die damit ausgelöste Entwicklung und ihre Folgen.

Die Entscheidung für Kinder und die Übernahme von Sorgearbeit für Pflegebedürftige gehören bei vielen Menschen genauso zum Leben wie die Arbeitswelt. Diese Menschen übernehmen Verantwortung für andere, die ihnen vertrauen. Die Begrifflichkeiten »Vereinbarkeit von Beruf und Familie« und »Work-Life-Balance« weisen auf das Zusammenführen getrennt gedachter und erlebter Lebensbereiche hin. Im Zuge der Digitalisierung, deren Kennzeichnung »4.0« auf die vierte industriell-technische Revolution verweist, lösen sich diese starren Grenzen des Industriezeitalters zunehmend wieder auf, durchdringen sich Bereiche und überlagern sich zeitlich. Wahrgenommene Unternehmensverantwortung und vertrauensvolle Zusammenarbeit von Menschen sind Beispiele für die neue Art des Zusammenwirkens im digitalen Zeitalter.

 


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