betriebliches Gesundheitsmanagement / Gliederpuppe unter Steinen begraben

Schöne neue Arbeitswelt – Gedankenspiele zu einem betrieblichen Gesundheitsmanagement 4.0

Der Sensor an seinem PC hatte vor geraumer Zeit das erste Blinzeln und die zunehmend müder werdende Augen bei Herrn Müller registriert. Aber er hatte die Warnungen auf seinem Bildschirm, Pausen einzulegen, schon zweimal ignoriert. Gleichzeitig meldeten die Sensoren in seinem Bürostuhl akuten Bewegungsmangel. Hatte nicht sein Fitness-Armband vormittags auch schon Alarm geschlagen? Schwupps, war der Bildschirm dunkel …

Dabei sollte doch die Präsentation für die nächste Vorstandssitzung unbedingt heute noch fertig werden, damit er morgen die letzten Korrekturen im Home Office vornehmen könnte. Wenig später bekommt Herr Müller bereits auf seinen wieder freigeschalteten Rechner erste konkrete Empfehlungen für ein besseres Selbstmanagement sowie dazu passende Kursangebote zur Stressbewältigung aus dem internen Weiterbildungskatalog.

Allerdings hatte der PC seine Daten schon an die Betriebskrankenkasse und die Personalabteilung übermittelt, da es in diesem Monat schon zweimal zu Vorkommnissen gekommen war. Man hatte ihm für das nächste Quartal eine Malus-Berechnung angedroht, wenn sich seine Zahlen und sein Verhalten nicht änderten.

Gott sei Dank, werden die Daten aus seinen Supermarkt-Einkäufen noch nicht an sein persönliches Gesundheitskonto bei der Krankenkasse übermittelt – schoss es Müller durch den Kopf. Obwohl, wer weiß? Denn seine Auswahl für diese Woche ließ auch da nicht gerade auf ein gesundheitskonformes Verhalten schließen. Da kam schon einiges zusammen: die Packung Bratwürstchen, drei Mal Tiefkühlpizza, dazu fettige Salami, recht üppige Portionen, kein Gemüse und alles noch im rekordverdächtigen Tempo vertilgt ….

Aber seitdem das Kantinenessen umgestellt wurde, verging ihm zunehmend die Lust. Fast sektiererhaft werden automatisch die Kalorien- und Nährstoffangaben erfasst und jedem an der virtuellen Kantinenkasse gnadenlos mitgeteilt, um anschließend dem persönlichen Konto gutgeschrieben zu werden – nein, ehrlich gesagt: „belastet zu werden“.

Gott sei Dank hatte sich sein unternehmensinterner Index „Mentalität der Ehrlichkeit“ gebessert. Er hatte in diesem Monat durchweg nur gute Noten durch seinen Kollegenkreis, seine Vorgesetzten, Mitarbeitenden, Familienmitglieder und Kunden erhalten. Mit seiner Bewertung von Identifikation und Einsatz, Persönlichkeit und Charakter, Loyalität und Vertrauenswürdigkeit konnten seine Vorgesetzten – und auch er – mehr als zufrieden sein.

Menschen, denen Müller von dieser neuen Form des Gesundheitsmanagements erzählte, reagieren mit einem Aufschrei: „Was sich die Arbeitgeber heutzutage herausnehmen? Wie Unternehmen mittlerweile ihre Mitarbeitenden überwachen?“. Müller musste sie in ihrer Empörung bremsen. Es waren die Mitarbeitenden selbst, die diese Form der Überwachung nicht als Schutz vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen sondern insbesondere wegen der Abgrenzung zu den „Low-Performern“ eingefordert hatten.

Anders erging es heute Morgen schon Frau Meier. Der Blick in den Spiegel mit der Schnellanalyse hatte offengelegt, dass die Färbung der Haut, die wässrigen Augen und die rote Nase daraufhin deuteten, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Der Abgleich mit ihren GPS-Daten vom Vortage ergaben eine zügige Diagnose: Nicht am Vorabend versumpft – es steht mit 83,7%-iger Wahrscheinlichkeit eine Erkältung oder Grippe an. Vorschläge für Therapien und Medikamente hatte sie bereits in wenigen Sekunden auf ihrem Smartphone.

Vorsicht geboten, Chefin ist krank und ggf. nicht zu genießen

Das Team wurde gleichzeitig bereits informiert: Chefin diese Woche wohl nicht im Haus. Allerdings blieb noch die Frage nach der Krankschreibung. Denn die Gesetzgeber und die Sozialpartner hatte die Vorschriften noch nicht der digitalen Arbeitswelt angepasst. Für die 3-stündige Bahn-Reise Ende der Woche zum Akquise-Gespräch nach Nürnberg zu krank – für eine Skype-Konferenz mit dem potenziellen Kunden aber gesund genug? Und auch die Teammitglieder wussten gleich, was das in ihrer hausinternen Übersetzung bedeutete: Vorsicht geboten, Chefin ist krank und ggf. nicht zu genießen. Heute besser die Mail-Filterfunktion für „wichtig“ und „weniger wichtiger“ justieren.

Bereits seit geraumer Zeit debattierten Krankenkassen mit Sozialpartnern und Gesetzgeber darüber, ob die herkömmliche, pauschale Krankschreibung in der digitalen Arbeitswelt überhaupt noch zeitgemäß ist. Oder müsste man eher Krankschreibungen für einzelne Tätigkeiten oder Aufgaben aussprechen? Wann war man überhaupt krank? Konnte man eigentlich bei den erhobenen Daten überhaupt noch krank werden? Und trug man dann nicht als Arbeitnehmer auch eine gewisse Mitverantwortung?

Warum haben Sie nicht reagiert?

Vielleicht ist es nicht am Ende sogar dann doch die Verantwortung der Führungskraft bei der gegebenen Transparenz über Ergebnisse und Verhalten der Mitarbeitenden, darauf zu achten, dass die Arbeitsbedingungen so sind, dass sie die Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden gewährleistet bleibt? „Warum haben sie nicht gemerkt, dass sich bei Müller bereits seit Donnerstag letzter Woche – genauer gesagt: ab 14.36 Uhr – seine Leistungskurve abflacht? Warum haben Sie nicht reagiert?“ – diese Forderung hatte sich Teamleiterin Meier schon einmal anhören müssen.

Sieht so betriebliches Gesundheitsmanagement der Zukunft aus? Nun, ganz so weit ist es noch nicht. Und vieles wird sich Gott sei Dank auch aus vielerlei Gründen, z. B. dem Datenschutz, in dieser Form nicht realisieren lassen. Aber grundsätzlich wird sich auch das betriebliche Gesundheitsmanagement verändern müssen – weil sich die Arbeitswelt verändert. Denn viele Aufgaben, so der Gesundheitsexperte Bernhard Badura in seinem aktuellen Buch „Arbeit und Gesundheit im 21. Jahrhundert“, werden sich unabhängig von Arbeitsplatz und Branche zukünftig zur „Kopfarbeit“ verschieben.

Es herrscht hoffentlich Einigkeit darüber, dass die oben skizzierten Gedankenspiele für eine moderne Organisationskultur basierend auf Prinzipien wie Delegation von Verantwortung und Partizipation sowie der Angemessenheit von Lebensplanung und Karriereaussichten eher „suboptimal“ sind? Trotzdem sollte es dazu verleiten, intensiver über Chancen und Risiken des betrieblichen Gesundheitsmanagements 4.0 nachzudenken.

Denn viele Instrumente der Vergangenheit verlieren möglicherweise ihre Bewandtnis und Bedeutung: Welche Stellenwert haben zukünftig noch Rückenschulungen? Braucht man überhaupt noch aufwändige Check-up-Projekte? Welchen Informationswert hat noch der allgemeine Stress-Ratgeber? Ja, wie sieht es dann eigentlich mit längeren Sommerurlauben aus – Relikt aus dem 20. Jahrhundert, wenn das überquellende Mail-Account und die Schnelligkeit von Veränderungen immer öfter Unterbrechungen erfordern? Erst kürzlich wurde dafür geworben, dass mehrere kurze Urlaube, gut über das Jahr verteilt, besser sind als ein langer. Dann lieber alternativ mehrere Kurzurlaube oder gleich ein längeres Sabbaticcal?

Fragen nach dem Sinn der Tätigkeiten nehmen einen wichtigeren Stellenwert ein

Betriebliches Gesundheitsmanagement wird sich in Zeiten der Digitalisierung neu aufstellen müssen. Nicht nur, dass neue Krankheitsbilder entstehen werden. Denken wir nur an die strapazierten Finger durch die zunehmende Smartphone-Nutzung. Die Aufgabenteilung wird sich möglicherweise von Behandlungen hin zu Diagnose und Prävention verschieben. Fragen der Lebens- und Karriereplanungen und dahinter stehende Fragen nach dem Sinn der Tätigkeiten nehmen einen wichtigeren Stellenwert ein.

Krankheit wird eher noch individueller zu beurteilen und zu behandeln sein als bisher. Gleichzeitig verlangt es die moralisch-ethische Auseinandersetzung, ob und inwieweit genetische Veranlagungen, soziale Chancen, unterschiedliche Lebensmodelle und verschiedene Aufgabenprofile mehr oder weniger durch Sozialpartner und Krankenkassen, Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu bewerten sind.

Gleichzeitig bietet die Digitalisierung, z. B. über Influencer und Social Media, großartige Möglichkeiten, Präventionsmaßnahmen und Hilfsangebote zu verbreiten und kann dazu beitragen, dass auch diejenigen erreicht werden, die es nötig haben oder sich auf normalem Wege nicht mehr angesprochen fühlen.

Manche kommen auch mit privaten Sorgen schon an ihren Arbeitsplatz

Und nicht zuletzt bedarf es wohl einer Neudefinition gesellschaftlicher bzw. sozialer Verantwortung von Organisationen und deren Führung. Was mache ich mit dem Mitarbeitenden der eine mehr oder weniger lange Durststrecke durchmacht? Was mit demjenigen, der durch den technologischen Wandel nicht mehr mithalten kann … oder will? Entsorgen? Alternativen anbieten? Was mache ich mit denjenigen, die privat noch zusätzliche Nöte plagen?

Das bedeutet am Ende auch neue Kooperationen hinsichtlich der gesundheitlichen Herausforderungen, die weit über das betriebliche Umfeld hinausgehen: von der Zunahme vermeidbarer chronischer Erkrankungen über die Erkrankungen und Pflege älterer Menschen bis zur Berücksichtigung persönlicher Probleme. Denn so mancher Mitarbeitende nimmt berufliche Probleme mit nach Hause, aber manche kommen auch mit privaten Sorgen schon an ihren Arbeitsplatz.

Organisationen sind sicherlich keinen Praxen und Führungskräfte keine Therapeuten. Aber es können Möglichkeiten genutzt und Sensibilitäten geschaffen werden, um motivierende, sinnstiftende und damit gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen zu schaffen. Dazu braucht es dann aber auch eine andere Offenheit der Mitarbeitenden, um nicht mit uneinlösbaren Ansprüchen und falschen Erwartungshaltungen auf die Anforderungen an eine schöne neue Arbeitswelt zu treffen.

Noch ist Zeit, Herrn Müller und Frau Meier Alternativen zu offerieren …

 

 



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