Gibt es ein Menschenrecht auf Ausbildung? Oder: Was inklusive Berufsausbildung wirklich bedeutet

Bleiben junge Menschen bei der Ausbildungssuche erfolglos, weil sie individuell benachteiligt sind oder bleiben sie ohne Ausbildung, weil das Ausbildungssystem ihnen den Zugang verwehrt? Die Autor:innen einer eindrucksvollen Expertise aus menschenrechtlicher Perspektive im Auftrag des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes kommen zu einem klaren Ergebnis: Allen interessierten Jugendlichen sollte eine schulische oder duale Berufsausbildung ermöglicht und sie sollten dabei so unterstützt werden, dass sie ihre Berufsausbildung nicht nur beginnen, sondern auch erfolgreich absolvieren können.

Die Expertise umfasst drei Schritte: Zunächst wird auf einer theoretisch-analytischen Ebene dargelegt, welche Konsequenzen sich aus menschenrechtlicher Perspektive im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) für ein inklusives Bildungssystem ergeben. Die Schlussfolgerungen sind weitreichend – hier zum Beispiel in Bezug auf den Übergangsbereich: „Die bloße Notwendigkeit der Existenz eines solchen Bereichs, der für bestimmte Gruppen von Jugendlichen Brücken über bestehende Lücken zwischen Schule und Beruf schlagen muss, zeigt an, dass das vorhandene Regelsystem der Berufsausbildung nicht für alle Jugendlichen zugänglich und damit nicht inklusiv – jedenfalls nicht im Lichte der UN-BRK – ist“ (S. 7).

Darauf folgt ein empirischer Teil, in dem Befunde der Jugend- und der Berufsbildungsforschung über die Situation junger Menschen am Übergang vorgestellt werden. Ausführlich erörtert werden Phänomene der Entgrenzung in den Lebenswelten junger Menschen und die sich daraus ergebenden Herausforderungen. Zu diesen Entgrenzungen zählen beispielsweise die Verlängerung von Ausbildungs- und Bildungszeiten, die zunehmende Komplexität und Differenzierung von Berufswegentscheidungen und regionale Entgrenzungen, verbunden mit Herausforderungen etwa in Bezug auf die Bewältigung von Unsicherheit oder steigende Mobilitätserwartungen. Zudem wird auf unterschiedliche Zugangschancen und Exklusionsrisiken am Ausbildungsmarkt eingegangen sowie auf die besonderen Schwierigkeiten für Jugendliche mit niedrigen Schulabschlüssen, Migrationshintergrund und Behinderungen.

Den Abschluss bilden die daraus abzuleitenden systemischen Konsequenzen – und die Skizzierung einer besseren Welt, in der junge Menschen da abgeholt werden, wo sie stehen, anstatt ihnen Hürden zu errichten, die sie überwinden müssen: „Diskriminierende personenbezogene Kategorisierungen (z. B. ‚Behinderte‘, ‚Benachteiligte‘, fehlende Ausbildungsreife‘), mit denen institutionelle Zuweisungen in exklusive bzw. gesonderte Maßnahmen außerhalb des zuvor genannten Regelsystems verbunden sind, schließt das Inklusionsverständnis der UN-BRK grundsätzlich aus.“ (S. 31)

Insgesamt eine sehr lesenswerte und durchaus aufrüttelnde Analyse, weil auch deutlich wird, wie weit der Weg zu einem inklusiven Bildungssystem noch ist: „Grundlegend ist, dass nicht der junge Mensch, z. B. durch Kompetenztest oder persönliche Eigenschaften, beweisen muss, dass er*sie zu einer Organisation passt, sondern die jeweilige Organisation, warum sie nicht zu den jungen Menschen passt.“ (S. 12) Der Paritätische Gesamtverband hat auch eine eigene Stellungnahme zu dieser Expertise veröffentlicht, in der er sechs Botschaften bzw. Handlungsfelder ableitet. Eine Botschaft lautet: „Alle jungen Menschen haben ein Recht auf Ausbildung“.

In Österreich ist ein Recht auf Ausbildung bereits Realität geworden. Dort gibt es seit vielen Jahren eine Ausbildungsgarantie. Sie schafft die rechtliche Grundlage dafür, dass jede:r ausbildungswillige Jugendliche bis 25 Jahre ein Angebot für eine Ausbildung erhält. Nur, wenn es trotz intensiver Vermittlungsbemühungen nicht gelingt, einen betrieblichen Ausbildungsplatz zu finden, wird die Ausbildung zunächst bei einem Träger durchgeführt – aber immer mit betrieblichen Praxisphasen. Ein Übergang von der Ausbildung beim Träger – in Österreich überbetriebliche Ausbildung (ÜBA) genannt – in betriebliche Ausbildung wird angestrebt. Er gelingt dort in der Hälfte aller Fälle spätestens nach einem Jahr. Die Garantie hilft Jugendlichen, eine berufliche Perspektive zu entwickeln, und der Wirtschaft, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Warum nicht von unseren Nachbarn lernen und das Modell der Ausbildungsgarantie auch in Deutschland einführen? Es wäre ein großer und wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem chancengerechten Ausbildungssystem.

Die Expertise und die Stellungnahme ist hier zu finden.



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