„Das Klagelied vom schlechten Bewerber“ – die Diskussion um die Ausbildungsreife aus neuer Perspektive betrachtet

Der Begriff Ausbildungsreife wird in der Fachwelt seit rund zwei Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Es gab und gibt sehr unterschiedliche Ansichten darüber, was unter dem Begriff zu verstehen und wie der Reifegrad zu messen sei. Auch die Erstellung eines umfangreichen Kriterienkataloges hat daran nicht wirklich etwas geändert: Das Konstrukt der Ausbildungsreife ist nach wie vor sowohl wissenschaftlich als auch politisch umstritten.[1]

Eine interessante Herangehensweise an diese Thematik hat Lea J. B. Zenner-Höffkes in ihrer Dissertation „Das Klagelied vom schlechten Bewerber, Historische Wurzeln und aktuelle Bezüge der Diskussion um mangelnde Ausbildungsreife in Deutschland und England im Vergleich“ vorgelegt, die im Springer-Verlag erschienen ist.[2] Die forschungsleitende Fragestellung lautet (S. 3): „Besteht ein Zusammenhang zwischen der Situation am Ausbildungsmarkt und der interessenpolitischen Verwendung des Arguments der mangelnden Ausbildungsreife Jugendlicher im politischen Diskurs?“ Es geht also nicht um die Frage, ob es junge Menschen gibt, die nach Beendigung ihrer Schulzeit aus unterschiedlichen Gründen noch nicht in der Lage sind, eine Ausbildung aufzunehmen. Manche brauchen Unterstützung, andere nicht. Worum es hier geht, ist die Frage, ob und wie der Begriff der Ausbildungsreife interessenpolitisch verwendet wird.

Das umfangreiche Werk, das sich sowohl auf eine breite Literaturanalyse als auch auf Expert:inneninterviews stützt, beleuchtet die Frage zum einen in historischer Perspektive und zum andern im internationalen Vergleich zwischen Deutschland („Ausbildungsreife“) und England („employability“). Besonders interessant für die Beurteilung der Situation in Deutschland sind dabei die detaillierten Betrachtungen darüber, wie sich die Diskussion um die Ausbildungsreife einerseits in Abhängigkeit von ökonomischen und bildungspolitischen Rahmenbedingungen entwickelt und andererseits wie diese Diskussion von den unterschiedlichen Interessengruppen geführt wurde und wird.

Ein Werk, das viel mehr Beachtung finden sollte in der bildungspolitischen Diskussion, denn Frau Zenner-Höffkes fördert in ihrem Werk Denkwürdiges zutage. So stellt sie beispielsweise fest: „Die durch die Arbeitgeberseite angesprochene Zielgruppe der als nicht ausbildungsreif angesehenen Jugendlichen verändert sich je nach Lage auf dem Ausbildungsstellenmarkt. In Zeiten des Nachfrageüberhangs wird vielen Jugendlichen die Ausbildungsreife abgesprochen. In Zeiten des Angebotsüberhangs stehen dagegen die sogenannten Problemgruppen im Zentrum.“ (S. 334). Mit anderen Worten: Der Begriff der „Ausbildungsreife“ wird politisch instrumentalisiert, um Lücken im Ausbildungsangebot zu kaschieren und den Jugendlichen buchstäblich die Schuld in die Schuhe zu schieben: Nicht an Ausbildungsplätzen fehlt es dann – so das Narrativ –, sondern an „ausbildungsreifen“ Jugendlichen. Zusammenfassend: „Es besteht somit ein klarer Zusammenhang zwischen der Situation auf dem Ausbildungsmarkt und der Verwendung des Arguments der mangelnden Ausbildungsreife im politischen Diskurs.“ (S. 329). Das sind starke und bedenkenswerte Aussagen.

An anderer Stelle (S. 28) resümiert sie bezugnehmend auf einen Aufsatz von Robert Jahn und Kathrin Brünner in der BWP von 2012: „Die Ergebnisse der quantitativ angelegten Untersuchung der drei auflagenstärksten Tageszeitungen (Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Welt) ergeben, dass die Sichtbarkeit des Themas Ausbildungsreife mit der Angebots-Nachfrage-Relation (ANR) korreliert. Die Sichtbarkeit des Themas ist umso höher, je schlechter die Chancen für Schulabgänger auf einen Ausbildungsplatz in Zeiten des Nachfrageüberhangs sind.“

Höchst spannend sind auch die Ausführungen über die Attributionsforschung zur Erklärung der Argumentationsmuster der Akteure in der Berufsbildung. Attribution bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Arbeitgeberverbände als Ursache für rückläufige Ausbildungsangebote und die Nichtbesetzung von Ausbildungsplätzen die mangelnde Ausbildungsreife Jugendlicher anführen. Damit wird die Verantwortung für die Situation den Jugendlichen gegeben. Die Arbeitnehmervertreter hingegen sehen die Ursache bei den Arbeitgebern und halten das Argument der mangelnden Ausbildungsreife für ein Scheinargument der Arbeitgeber, um von der schwierigen Situation auf dem Ausbildungsmarkt abzulenken.

Was lernen wir daraus? Vom Begriff der Ausbildungsreife sollte man besser die Finger lassen. Denn was ein junger Mensch für eine Ausbildung mitbringen muss, hängt vom angestrebten Beruf ab, aber auch von den speziellen Anforderungen des Betriebs und von der Bereitschaft der am Ausbildungsgeschehen Beteiligten, sich aufeinander einzulassen. Pauschalisierungen helfen da nicht nur nicht weiter, sondern führen zu demotivierenden Schuldzuweisungen.

Viel zielführender ist da ein Ansatz, den die Autor:innen einer eindrucksvollen Expertise aus menschenrechtlicher Perspektive im Auftrag des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes kürzlich vorgelegt haben: Allen interessierten Jugendlichen sollte eine schulische oder duale Berufsausbildung ermöglicht und sie sollten dabei so unterstützt werden, dass sie ihre Berufsausbildung nicht nur beginnen, sondern auch erfolgreich absolvieren können. „Diskriminierende personenbezogene Kategorisierungen (z. B. ‚Behinderte‘, ‚Benachteiligte‘, fehlende Ausbildungsreife‘), mit denen institutionelle Zuweisungen in exklusive bzw. gesonderte Maßnahmen außerhalb des zuvor genannten Regelsystems verbunden sind, schließt das Inklusionsverständnis der UN-BRK grundsätzlich aus.“[3]

Ein Beispiel dafür, wie ein solcher Ansatz in die Realität umgesetzt werden kann, findet sich in Österreich: Dort gibt es seit vielen Jahren eine Ausbildungsgarantie. Sie schafft die rechtliche Grundlage dafür, dass jede:r ausbildungswillige Jugendliche bis 25 Jahre ein Angebot für eine Ausbildung erhält. Nur, wenn es trotz intensiver Vermittlungsbemühungen nicht gelingt, einen betrieblichen Ausbildungsplatz zu finden, wird die Ausbildung zunächst bei einem Träger durchgeführt – aber immer mit betrieblichen Praxisphasen. Die Ausbildung beinhaltet auch individuelle Unterstützung durch Coaching, Nachhilfe und individuelle Begleitung, wenn der junge Mensch Unterstützung braucht. Ein Übergang von der Ausbildung beim Träger – in Österreich überbetriebliche Ausbildung (ÜBA) genannt – in betriebliche Ausbildung wird angestrebt. Er gelingt dort in der Hälfte aller Fälle spätestens nach einem Jahr. Die Garantie hilft Jugendlichen, eine berufliche Perspektive zu entwickeln, und der Wirtschaft, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Warum nicht von unseren Nachbarn lernen und das Modell der Ausbildungsgarantie auch in Deutschland einführen? Es wäre ein großer und wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem chancengerechten Ausbildungssystem. [4]

[1] Vgl. Eberhard, Verena, Was ist eigentlich ‚Ausbildungsreife‘?, in: Bundeszentrale für politische Bildung, „Was ist eigentlich ‚Ausbildungsreife‘?“ | bpb vom 9.11.2018.
[2] Lea J. B. Zenner-Höffkes, „Das Klagelied vom schlechten Bewerber, Historische Wurzeln und aktuelle Bezüge der Diskussion um mangelnde Ausbildungsreife in Deutschland und England im Vergleich“, Köln 2020.
[3] Der Paritätische (Hrsg.), Übergang zwischen Schule und Beruf neu denken: Für ein inklusives Ausbildungssystem aus menschenrechtlicher Perspektive, expertise_uebergang-schule-beruf_2021.pdf (der-paritaetische.de), S. 31.
[4] siehe auch Die Ausbildungsgarantie in Österreich – Funktionsweise, Wirkungen, Institutionen



Kommentar verfassen