Paragraph als Symbol für BVaDiG

Das BVaDiG greift bei der Anerkennung informellen Lernens zu kurz

Geplantes Gesetz zur Kompetenzanerkennung hilft nicht gegen Fachkräfteengpässe

Das Bundeskabinett hat den Beschluss gefasst, die Anerkennung von Kompetenzen zu erleichtern: Ziel ist es, Berufserfahrung zu validieren und im Berufsbildungssystem anschlussfähig zu machen. Unserer Ansicht nach greift das BVaDiG (Berufsbildungsvalidierungs- und -digitalisierungsgesetz) allerdings zu kurz. Wirksame Fachkräftesicherung erfordert ein echtes Anerkennungsgesetz für informelles und non-formales Lernen auf Basis von Teilqualifikationen. Statt eines BVaDiG, das Validierung für äußerst wenige nahezu vollqualifizierte Menschen ins BBiG (Berufsbildungsgesetz) und die HWO (Handwerksordnung) aufnimmt, wäre ein Gesetz zur Anerkennung informellen Lernens bei Inländer:innen analog dem BQFG (Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz auch „Anerkennungsgesetz“) und erweitert um die Möglichkeit informell erworbene Kompetenzen als Teilqualifikationen anerkennen zu lassen deutlich zielführender. Nur so können substanzielle Fachkräftepotenziale gehoben werden. Ein solches auf Teilqualifikationen aufsetzendes System im Sinne eines echten Anerkennungsgesetzes war auch der von Berufsbildungsexpert:innen mehrheitlich favorisierte Ansatz im Rahmen eines Expertendelphis des BIBB (Bundesinstitut für Berufsbildung).

BVaDiG zielt nur auf einen Bruchteil der informell Qualifizierten
  • Die Voraussetzung für eine Validierung im BVaDiG ist eine überwiegende oder vollständige berufliche Handlungsfähigkeit. Ein Großteil der über 4 Millionen Menschen ohne Berufsabschluss wird erwartungsgemäß aber nur eine teilweise berufliche Handlungsfähigkeit aufweisen. Das scheint der Gesetzgeber zu antizipieren, denn die erreichbare Zielgruppe wird laut Begründung des Gesetzes mit 1.150 Fällen pro Jahr (S. 43, BVaDiG) extrem klein sein.
  • Analysen des Forschungsinstituts Betriebliche Bildung (f-bb) anhand des SOEP (Sozio-Ökonomisches Panel) haben jedoch gezeigt, dass knapp 70 % der formal Geringqualifizierten aktuell bereits als Fachkräfte, Spezialisten oder Experten arbeiten.
  • Die Kompetenzschätze dieser Millionen von informell Qualifizierten können mit dem aktuellen Gesetzesentwurf nicht gehoben werden und gewährleisten somit kaum, dass zur Fachkräftesicherung „alle vorhandenen Potenziale aktiviert werden“ (S. 37, BVaDiG).
Validierung nur Anerkennung zweiter Klasse
  • Das vorgeschlagene Verfahren soll die berufliche Handlungsfähigkeit 1:1 wie die Abschlussprüfung unmittelbar feststellen (S. 37, BVaDiG). Dabei fällt es tatsächlich sogar hinter das Anerkennungsgesetz für ausländische Abschlüsse zurück. Eine Gleichwertigkeit formalen, non-formalen und informellen Lernens bei gleichem Lernergebnis wird dabei nicht hergestellt:
  • Das BQFG ermöglicht für im Ausland erworbene Abschlüsse eine tatsächliche formale Gleichstellung zum inländischen Berufsabschluss, selbst bei Nicht-Vorlage entsprechender Zeugnisse (§ 14 BQFG).
  • Im Gegensatz dazu werden mit dem BVaDiG nach der Validierung teilweise zusätzliche Hürden aufgebaut. Für einen Teil der Referenzberufe muss nämlich nach einer vollständigen Validierung erst ein weiteres Jahr der Berufspraxis nachgewiesen werden, bevor der Zugang zur Meisterfortbildung gewährt wird (§ 49, Absatz 2, 2. B).
Garantierter Zugang zur Externenprüfung nach Teilqualifizierung fehlt
  • Bisher ist Anerkennung informellen beruflichen Lernens nur über den Weg der Externenprüfung (§ 37 (2) HWO; § 45 (2) BBiG) möglich, die am Ende eine 0-1 Entscheidung über den Berufsabschluss trifft. Der Zugang zu dieser Prüfung ist an hohe Hürden geknüpft und eine Einzelfallentscheidung.
  • Selbst wer erfolgreich an allen Teilqualifikationen eines Berufes teilgenommen hat, hat derzeit keinen garantierten Zugang zur formalen Abschlussprüfung als Externe:r. Dies muss geändert werden, wie IB (Internationaler Bund) und BDA (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände) in ihren Stellungnahmen zu Recht fordern.
  • Es ist inhaltlich nicht nachvollziehbar, dass Menschen, die alle Teile eines Berufs non-formal (inkl. Praxisphasen) erlernt haben, diese Lernergebnisse keiner finalen Prüfung unterziehen lassen dürfen, um so den formalen Berufsabschluss erhalten zu können.
  • Eine mangelnde Garantie der entsprechenden Prüfungszulassung untergräbt die Motivation, sich überhaupt erst auf den Weg in Richtung Vollabschluss zu machen.
Viele offene Fragen:
  • Welche Institution ist für die in jedem Fall notwendige Validierungsberatung vorgesehen?
    • Aufgrund der inhaltlichen Nähe sollten perspektivisch die Anerkennungsberatung zum BQFG und die Validierungsberatung in der gleichen Hand liegen.
  • Schon beim Antrag auf Validierung muss entschieden werden, ob deren Ziel die überwiegende oder aber die vollständige Vergleichbarkeit der beruflichen Handlungsfähigkeit ist. Wie wird verfahren, wenn bei einem Antrag auf überwiegende Validierung, (§ 50b (4) BBiG) Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten im Umfang der vollständigen beruflichen Handlungsfähigkeit zu Tage treten?
    • Hier sollte der Amtsermittlungsgrundsatz gelten und in diesem Fall anders als beantragt, die vollständige Validierung erfolgen.

 

Begründung:

Deutschland braucht ein Anerkennungssystem für informelles und non-formales Lernen

Es ist schon längst kein Geheimnis mehr, dass Deutschland ein wirksames System für die Anerkennung von Kompetenzen braucht. So hat sich Deutschland schon 2012 mit seiner Unterschrift unter eine entsprechende EU-Ratsempfehlung auf dessen Schaffung verpflichtet. Dass das in Deutschland dringend nötig ist, zeigten schon 2015 Auswertungen des WZB (Wissenschaftszentrum Berlin) zu den PIAAC-Daten (Programme for the International Assessment of Adult Competencies). Hier wurde u.a. deutlich, dass in Deutschland, anders als in unseren Nachbarländern ohne Berufsabschluss, auch hohe Kompetenzen nicht vor Arbeitslosigkeit schützen. Berufsbildungsexpert:innen sahen konsequenterweise schon 2015 im BIBB-Expertenmonitor eine große Notwendigkeit für eine entsprechende Reform und schätzten die Risiken für das Berufsbildungssystem insgesamt als gering ein. Erfahrungen aus Frankreich, Finnland und der Schweiz gaben ihnen Recht, denn dort sind bereits seit Jahren erfolgreiche Anerkennungssysteme etabliert, wie eine weitere internationale Vergleichsstudie ebenfalls 2015 zeigte.

 

Arbeitgeber und Beschäftigte einig: Informelles Lernen ist wichtigste Kompetenzquelle

Eine repräsentative Befragung von Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen bestätigte 2016 die Bedeutung informellen Lernens (z. B. am Arbeitsplatz) für den beruflichen Erfolg. Sie überstieg deutlich die des formalen (z. B. Ausbildung, Hochschulstudium) und non-formalen (z. B. Seminare, Lehrgänge) Lernens.

 

Ein Anerkennungssystem in Deutschland sollte auf Basis von TQ aufgesetzt werden

Aber wie genau sollte ein deutsches Anerkennungssystem für informelles und non-formales Lernen aussehen? Die 2017 vom BIBB in einem Experten-Delphi Befragten sahen für ein System, dass auf Teilqualifikationen aufbaut, sowohl die höchsten Realisierungschancen als auch den höchsten Mehrwert. Teilqualifikationen sind in der Regel 5-8 Teile eines Berufes, die einzeln erlernt, geprüft und am Arbeitsmarkt verwendet werden können und in Summe den gesamten Beruf abbilden. Welche weiteren Kriterien ein erfolgreiches Anerkennungssystem haben sollte, diskutierten 2019 in Berlin 300 Expert:innen aus 40 Ländern auf der 3. Biennale zur Anerkennung von Kompetenzen. Das Ergebnis der intensiven Debatten ist eine Beschreibung einer internationalen Benchmark, die in der Berliner Erklärung zur Anerkennung von Kompetenzen niedergelegt und in einer ausführlichen Publikation mit konkreten Beispielen aus aller Welt hinterlegt ist. Entscheidend sind dabei:

  • klare Rollenverteilung
  • gesicherte Finanzierung
  • gut zugängliche und faire Prozesse
  • niedrigschwellige Beratungs- und Unterstützungssysteme
  • Zugangsberechtigungen zu qualifizierter Arbeit und weiterer Bildung durch die Anerkennungsergebnisse und
  • rechtliche Rahmenbedingungen, die dies alles regeln.

 

Zivilgesellschaft unterstützt diese Forderungen

In einem gemeinsamen Positionspapier im Nachgang einer Veranstaltung zur nationalen Weiterbildungsstrategie forderten 2019 Heinrich-Böll-Stiftung und Bertelsmann Stiftung, dass ein deutsches Anerkennungssystem eine hohe Reichweite anstreben sollte und auch Teile von Vollberufen abbilden soll. Konkret wird die Verbindung von Kompetenzanerkennung und Teilqualifikationen gefordert. Diese Forderungen wurden in dem auf Experteninterviews basierenden Positionspapier „8 Forderungen für die Weiterbildung von morgen“ im Jahr 2023 unterstützt.



Kommentare

  1. / von Dr. Dieter Hölterhoff

    Es stellt sich die Frage, wer und aus welche Gründen die seit Jahren geforderte formale Anerkennung durch eigene Tätigkeit erworbener beruflicher Kompetenzen verhindern will. Die BDA-Stellungnahme überzeugt an keiner Stelle. Sie verkennt, dass eine höhere tarifliche Eingruppierung (hier wären mehr tariftreue Unternehmen gefordert) nach der Anerkennung ein Mehr an Einkommen, an Steueraufkommen ebenso wie Abgaben für die Sozialversicherungen bedeutet. Zu argumentieren, dass man lieber Teilqualifizierte hätte, bedeutet die Zahlung von geringeren Löhnen und trägt somit zur Abqualifizierung und Entwertung der dualen Berufsausbildung bei. Die Attraktivität wird so nicht gesteigert. Imnsgesamt ist der Gesetzentwurf sicherlich noch verbesserungswürdig.

    1. / von Martin Noack
      zu

      Eine höhere Tarifbindung von Betrieben wäre in jedem Fall ein wertvoller Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit am Arbeitsmarkt. Dabei würde eine gestufte tarifliche Abschichtung zwischen Mindestlohn und Fachkraftlohn die Motivation für die Teilnahme an Teilqualifizierungen gerade auch jenseits der ersten TQ sicher deutlich erhöhen. Dadurch würden realistische und wirksame Aufstiegspfade vor allem für Menschen ohne Berufsabschluss ermöglicht.

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