Wer ist Medea?

von Franz-Erdmann Meyer-Herder
Barbarische Zauberin, Landesverräterin, Mörderin der eigenen Kinder – der Name „Medea“ löst unheimliche Assoziationen aus, fasziniert aber auch durch seine schillernde Dunkelheit. Vor knapp 3000 Jahren sah man sie z.B. noch als zauberkundige Helferin göttlicher Abstammung. Noch bis 7. März steht Luigi Cherubinis gleichnamige Oper bei uns auf dem Spielplan. Grund genug, den Mythos Medea genauer unter die Lupe zu nehmen.
„Was denn? Ich bin Medea!“ Worte einer Frau, die sich an ihren Ruf erinnert, skrupellos zu morden, und wenn es um die eigene Familie geht. Die letzten Zweifel beseitigt sie in Luigi Cherubinis Oper von 1797 mit dem Rekurs auf das, was sie ist: Mythos Medea, die zauberkundige Barbarin aus der Fremde. Die Mörderin von Vater und Bruder, die Komplizin des Raubzugs Iasons und der Argonauten. Iasons, dem sie aus Liebe die eigenen Verwandten opfert und das goldene Vlies verschafft. Iason, der sie für politisches Asyl verleugnet und die Tochter des korinthischen Königs Kreon, Kreusa (oder Glauke oder Dircé, je nach Übersetzung), heiratet. Wer, wenn nicht sie, sollte so weit gehen, die eigenen Kinder zu schlachten, um sich durch ihr Blut am Vater, an ihrem Geliebten zu rächen, der sie zum Bruch mit allem, was ihr heilig war, gedrängt und dann aus Opportunismus verlassen hat?

Aber Medea war nicht immer Medea. Oder vielmehr: Medea war nicht immer Medea, Mörderin von Vater und Bruder, Komplizin des Iason, Mörderin der eigenen Kinder, Stiefmutter und wiederum fast Mörderin des Helden Theseus, Stammesmutter der Meder im nördlichen Iran, ständig auf der Flucht, ständig die Verfolgte. Mythos war sie schon immer, aber wie Hans Blumenberg in seinem 1979 veröffentlichten Werk „Arbeit am Mythos“ feststellte, ist der Mythos nicht bloß der Verweis auf ein a- oder prähistorisches Sujet. Vielmehr besteht der Mythos immer im Moment des Erzählens und der jeweiligen erzählerischen Zurichtung. Dass Medea aus Rache ihre eigenen Kinder ermordet, erfindet erst Euripides in seiner Medeia-Tragödie aus dem Jahre 431 v. Chr. Bzw. fügt er verschiedene Formen der Überlieferung zu einem Bild zusammen, das die Rezeption über fast 2500 Jahre hinweg bestimmen sollte, sodass wir heute eine kleine Archäologie unternehmen müssen, wollen wir eine heutige Medea verstehen.

Glaubt man ihrem Namen, so ist Medea der griechischen Wortwurzel des Verbes mḗdomai („ersinnen“, „nachdenken“, „sich beraten“) „die Ratwissende“. Die ältesten Überlieferungen, wie z.B. Hesiods Theogonie bzw. Entstehung der Götter aus dem 8. Jh. v. Chr., legen eine göttliche Abstammung Medeas vom Sonnengott Helios nahe:

Und Okeanos' Tochter Perseis gebar den Aietes
Ihm dem Herrscher der Sonne, der nimmer ermüdet, und Kirken.
Doch Aietes, der Sohn des leuchtenden Sonnenbeherrschers,
Freite Okeanos' Tochter, des Stroms, der die Welt umkreiset,
Wie es die Götter gewollt, – Idyia mit prangenden Wangen.
Sie war's, die ihm die schlanke Medea gebar, da der Göttin
Liebend der Gott sich genaht: so wollt' es die goldene Kypris.
Simone Schneider als Medeain Luigi Cherubinis gleichnamiger Oper. Inszenierung von Peter Konwitschny.
Medea ist Tochter des Königs Aietes von Kolchis, eines sagenhaften Königreichs am östlichen Ufer des Schwarzen Meeres. Dorthin schickt Pelias, König von Iolkos, seinen Neffen Iason, der eigentlich der legitime Thronerbe ist, um das Goldene Vlies zu erbeuten. Hierbei handelt es sich um das Fell eines legendären Widders, dem Zauberkräfte zugesprochen werden. Medea kommt nun in unterschiedlichen Darstellungsweisen die Rolle der zauberkundigen Jungfrau zu, die dem sterblichen Helden hilft, übermenschliche Aufgaben zu bewältigen, um an das Vlies zu kommen. Er nimmt sie mit zurück nach Iolkos, Pelias ist während seiner Abwesenheit eines natürlichen Todes gestorben und die beiden fristen ein friedliches Dasein.
Iason und Medea reichen einander zum Zeichen ihres Ehebunds die Hände. Relief eines römischen Sarkophags des 2. Jahrhunderts im Palazzo Altemps, Rom
Erste Eintrübungen der Geschichte um Medea ergeben sich aus der Rivalität Iasons und Pelias‘ und der Mithilfe Medeas am Sturz des unrechtmäßigen Herrschers in anderen Überlieferungen. Die Zauberkraft der aus der Fremde stammenden Frau scheint über kurz oder lang etwas Beunruhigendes zu haben.

Das Fortleben Medeas in Korinth, wo auch Luigi Cherubinis Oper spielt, stammt wohl ebenfalls aus Überlieferungen aus dem 8. Jh. v. Chr. von Eumelos von Korinth. Demnach sei die Stadt durch den Sonnengott Helios dem Geschlecht des Aietes vermacht gewesen, Medea somit rechtmäßige Herrscherin mit dem sterblichen Mann Iason an ihrer Seite. Doch an dieser fundamentalen Differenz verdüstert sich die Geschichte weiter. Um die gemeinsamen Kinder unsterblich zu machen, habe Medea sie in den Hera-Tempel gebracht. Bei der hier stattfindenden Prozedur seien die Kinder jedoch ums Leben gekommen, was zum Bruch zwischen Iason und Medea führte.
Medea (Simone Schneider) nach der Ermordung ihrer Kinder. Im Hintergund: Matthias Klink als Iason.
In verschiedenen Versionen der Geschichte wird Medeas Aufenthalt in Korinth durch erste kriminelle Taten überschattet. Kreophylos, ein Zeitgenosse Homers, beschreibt eine Episode in Medeas Leben, die sie als Mörder des Königs Kreon schildert, dessen Nachkommen sich durch Ermordung ihrer Kinder rächen. Die Tat wird der Mutter angedichtet, die jedoch bereits nach Athen geflohen ist, dort Frau des Aigeus und Stiefmutter des Theseus wird, den sie durch einen Gifttrank aus dem Weg räumen will.

Medea wird zur Projektionsfläche, zur Folie für alles Abscheuliche, was man einer Figur anhängen kann. Sie hilft Iason, den eigenen Vater Aietes zu überlisten und das Heiligtum der Kolcher zu stehlen. Sie lässt auf der Flucht in einem geheiligten Tempelbezirk den eigenen Bruder, der die Räuber verfolgt, in einen Hinterhalt locken und abschlachten. Die zerstückelte Leiche lässt sie Glied für Glied ins Meer werfen, um die sie verfolgende kolchische Flotte mit Begräbnisritualen zu verlangsamen. Sie überlistet die Töchter des Pelias, den eigenen Vater für einen vermeintlichen Verjüngungszauber zu zerteilen und in einem Kessel zu kochen. Alles aus erotischer Abhängigkeit von ihrem Geliebten Iason, der ihr bei Euripides vorwirft, am meisten von den gemeinsamen Taten profitiert zu haben, da sie aus dem Land der Barbaren in die Zivilisation der griechischen Polis gelangt sei.

Jason and Medea von John William Waterhouse, 1907
Maria Callas gab der Figur der Medea im 20. Jahrhundert gleich auf zweifache Weise ein neues Gesicht. Ihre Interpretation der Oper Cherubinis beim Maggio Musicale Fiorentino 1953 brachte dieses fast vergessene Werk wieder zurück ins Bewusstsein eines breiteren, informierten Publikums. Eduard Hanslick, einer der einflussreichsten Musikkritiker des 19. Jahrhunderts schrieb 1880 über eine deutschsprachige Aufführung der Medea in Wien: „Hoch gepriesen und lässig besucht, von allen bewundert, von wenigen geliebt, das ist jederzeit das Schicksal der Cherubinischen Medea gewesen.“ Die vordergründige Sperrigkeit dieser Revolutionsoper – nicht mehr Klassik, aber auch noch nicht ganz Romantik – ist ihre besondere Stärke: Cherubini erfindet einen neuen Rollentypus höchster Expressivität, während der Klassizismus seiner Musiksprache erhalten bleibt. In Maria Callas fand sich eine Interpretin, deren Rigorismus stimmlich wie darstellerisch zu dieser Figur passen wollte.

Doch vor allem ihre – freilich nicht ganz von Pathos freie – Interpretation der Medea in Pier Paolo Pasolinis Film von 1969 lässt einen anderen Blick auf die Psyche dieser Figur erkennen. In den fast schon ethnographisch anmutenden Bildern dieses Films erkennen wir die Primitivität und Grausamkeit, die man ihr anhängt, in anderen kontrastierenden Figuren. Sie ist fortan eine Entwurzelte, eine vom eigenen Schicksal Verfolgte, die von den Demütigungen, die man ihr antut, in die Raserei, dieses große Thema der griechischen Tragödienliteratur, getrieben wird.
Nahezu 3000 Jahre Arbeit am Mythos – Die Figur der Medea ließ die Literatur der Jahrtausende nicht los. Euripides folgten Ovid und Seneca mit ihren eigenen Interpretationen. Renaissance und Barock brachten das Sujet zurück ins Bewusstsein, es entstanden zahlreiche Tragödien, die ersten Opern (Teseo von Georg Friedrich Händel ist neben Medée von Cherubini die prominenteste). Franz Grillparzer brachte 1821 seine Trilogie Das Goldene Vlies zur Uraufführung, Hans Henny Jahnn arbeitet weiter an Medeas Geschichte, Heiner Müller schrieb 1982 sein Medeamaterial und Christa Wolf deutete 1996 in ihrem Roman Medea. Stimmen den Mythos radikal feministisch als Geschichte der Denunziation und Unterdrückung einer frei sprechenden Frau. Zeit, Medea wieder oder neu zu entdecken und nachzuvollziehen, welche zivilisatorischen Bedürfnisse sich durch die verschiedenen narrativen Transformationen über die Jahrtausende äußern. Es äußern sich darin immer wieder Fragen danach, woher Schuld und Beschuldigung kommen; woher Ur-Ängste und gegen wen sie sich richten; und auch, wie viel vom Schrecken, der anderswo angerichtet wird, sich auf lange Sicht aus dem Staat fernhalten lässt. Entsprechend Zeit, sich die Frage zu stellen, warum uns diese dunkel schillernde Figur nicht loslassen will.