Tobias Knobloch und Joachim Eschemann führen ein Interview

Predictive Policing – Mit Algorithmen vor die Lage kommen

Mit der Hoffnung, polizeiliche Ressourcen effektiver einzusetzen, nutzen deutsche Sicherheitsbehörden Software, um Prognosen über zukünftige Verbrechensareale zu erstellen. Welche Chancen und Herausforderungen die neuen Technologien mit sich bringen, diskutierte Tobias Knobloch von der Stiftung Neue Verantwortung mit Joachim Eschemann vom Innenministerium Nordrhein-Westfalen in einem Hintergrundgespräch.

„Predictive Policing“ – übersetzt „vorausschauende Polizeiarbeit“ – bezeichnet von Polizeibehörden eingesetzte softwarebasierte Systeme, die auf der Grundlage von historischen Kriminalitätsdaten, meist im Zusammenspiel mit aktuellen, kriminologisch relevanten Lagedaten, Prognosen über zukünftige Verbrechensareale oder Straftäter erstellen. Diese Prognosen nutzt dann die Polizei für ihre Einsatzplanung. Um den Stand der Dinge in Deutschland vorzustellen und Möglichkeiten wie Grenzen solcher algorithmischer Systeme zu diskutieren, luden die Stiftung Neue Verantwortung und die Bertelsmann Stiftung am 30. August zu einem Hintergrundgespräch nach Berlin ein. Das Gespräch fand im Rahmen des Kooperationsprojekts „Algorithmen fürs Gemeinwohl“der Stiftung Neue Verantwortung und der Bertelsmann Stiftung statt. Ziel des Projekts ist es, gemeinwohlorientierte Gestaltungsprinzipien für algorithmische Entscheidungssysteme zu entwickeln.

Möglichkeiten nutzen, Grenzen identifizieren

Das Gespräch führte Tobias Knobloch mit Joachim Eschemann vom Innenministerium Nordrhein-Westfalen. Die nordrhein-westfälischen Polizeibehörden nutzen das selbstentwickelte System zur Kriminalitätsauswertung und Lageantizipation, kurzSKALA. SKALA kombiniert verschiedene Informationssysteme und nutzt neben der polizeilichen Datenerfassung beispielsweise infrastrukturelle Gegebenheiten und demographische Daten. Zu Wohnungseinbrüchen, Gewerbe- und Autodiebstählen werden so Kriminalitätsprognosen und komplexe Gesamtlagebilder erstellt. SKALA empfiehlt Gebiete zur Präventionsarbeit wie der Entsendung von Streifen. So sollen die Ressourcen der Polizei effizienter eingesetzt werden. Neben NRW nutzen Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen und Berlin ähnliche Systeme, wenn auch mit unterschiedlichem Funktionsumfang.

Im Gespräch wurden die Möglichkeiten und Grenzen solcher Systeme klar herausgestellt. Deutlich wurde erstens, dass die Polizei kein algorithmisches System zur Prognose von Sachverhalten, die sie schon weiß (z. B. dass es in der Nähe eines Bahnhofs eine Drogenszene mit entsprechenden Delikten gibt), benötigt. Zweitens ist kein allwissendes System erstrebenswert, das die Lagebildeinschätzung der Polizei komplett ersetzen soll, vielmehr geht es um eine Ergänzung. Die Herausforderung besteht darin, Predictive-Policing-Systeme in etablierte Arbeitsprozesse einzufügen - auch wenn diese dafür stellenweise natürlich modifiziert werden müssen. Drittens muss die Erwartungshaltung realistisch bleiben. Auch noch so perfekte Software wird Verbrechen nicht vollständig verhindern können: “Kriminalitätsfreie Gesellschaften gibt es nicht. Normenverletzungen gehören zum menschlichen Dasein dazu”, so Eschemann. Am Ende ist die Möglichkeit von Verbrechen also die Kehrseite der Freiheit, weshalb es nur unter Gefahren für die Freiheit überhaupt möglich wäre zu versuchen, Verbrechen mit technischer Hilfe völlig zu eliminieren.

Wir brauchen klare Zielvorgaben und einen transdiziplinären Austausch über grundlegende Prinzipien

Insgesamt ist hierzulande sowohl auf Softwareanbieter- als auch auf Behördenseite ein erfreulich reflektiertes Vorgehen bei der Einführung von Predictive Policing Systemen festzustellen. Gleichwohl bleiben die genannten Gefahren bestehen. Knobloch empfiehlt daher in seinem kürzlich veröffentlichten Policy Paper diverse Maßnahmen: So sollten Nutzungszwecke und -grenzen vorab klar festgelegt, die Systeme unter Verwendung eines transdisziplinären Ansatzes entwickelt und grundlegende ethisch-humanistische Prinzipien und Kriterien diskutiert und durchgesetzt werden.

Nachdem im Rahmen des Projekts „Algorithmen fürs Gemeinwohl“ neben Predictive Policing auch Robo Recruiting – der Einsatz von Algorithmen in der Personalgewinnung – diskutiert wurde, werden am 9.11.2018 im Rahmen eines intersektoralen Workshops Algorithmen im Gesundheitssystem betrachtet. 

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