Ob zu Fuß, per Rad, Rollstuhl oder Auto: Navigationsanwendungen bringen uns durch den Alltag. Der „Freund und Helfer“ GoogleMaps gibt uns meist den Weg vor. Jedoch denkt kaum jemand darüber nach, welche Auswirkungen die digitalen Lotsen auf unsere Leben und Städte haben. Professor Johannes Schöning von der Universität Bremen hat die Funktionsweisen einiger Systeme untersucht und appelliert, die erheblichen Auswirkungen stärker gesellschaftlich zu thematisieren.

Schon heute vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht von einem Algorithmus durch die Straßen geführt werden. Allein der Marktführer GoogleMaps wird nach Angaben des Herstellers von über eine Milliarde Menschen monatlich genutzt. Der Einfluss der navigierenden Algorithmen auf gesellschaftliche Teilhabe wurde bisher jedoch kaum beleuchtet. Dabei wird die Relevanz von Navigationsanwendungen in einer Zukunft mit automatisiert fahrenden oder sogar autonomen Fahrzeugen weiter steigen, da Menschen immer mehr Entscheidungen an Navigationssysteme abgeben werden.

Viele Menschen lassen sich unter der Annahme an ihr Ziel leiten, dass ihnen der effizienteste Weg angezeigt wird. Aber was bedeutet eigentlich ‚effizient‘? Es ist kaum etwas darüber bekannt, welche Kriterien bei der Wegoptimierung einbezogen werden. Dabei ist es gesellschaftlich von großem Interesse, wie Verkehr gesteuert wird: Ob die vorgeschlagene Stauumgehung durch ein Wohngebiet mit Kindergarten führt oder eine längere Route durch ein Gewerbegebiet vorschlägt, hat große Relevanz für Sicherheit und Lebensqualität.

Studien zeigen Externalitäten

In mehreren Studien, wie unter anderem das im August 2019 veröffentlichte Konferenzpapier, haben wir erstmals systematisch geprüft, welche Wirkungen Navigationsanwendungen auf unsere Städte haben. Algorithmen von sechs Herstellern, die Routen auf Basis von unterschiedlichen Kriterien optimieren, sowie Auswirkungen in vier verschiedenen Städten wurden miteinander verglichen. Dabei fanden wir heraus, dass unterschiedliche Routenführungen zu teils erheblichen Externalitäten führen.

Bei sogenannten ‚Route-Level Externalitäten‘ haben wir untersucht, wie sich durch unterschiedliche Optimierungskriterien die Eigenschaften einer Route ändern, z.B. ob man statt über eine Landstraße über Autobahnen geführt wird. So zeigt Google meist Routen an, die die Nutzer:innen längere Wegstrecken auf Autobahnen zurücklegen lassen, auch wenn es nicht der schnellste Weg ist. In unserer Studie zeigt sich, dass wenn Algorithmen nach dem Kriterium Sicherheit optimieren, deutlich komplexere Routen vorgeschlagen werden. Dadurch entstehen jedoch unter anderem größere Unfallrisiken und ein deutlich erhöhtes Verkehrsaufkommen in speziellen Stadtteilen. Dies sind dann sogenannte ‚Community-Level Externalitäten‘, die beschreiben, welche Auswirkungen veränderte Routen auf teilhaberelevante Aspekte der Gesellschaft haben.

Einfluss von Navigationssystemen auf Teilhabe

Unter anderem haben wir untersucht, welche Community-Level Externalitäten für Rollstuhlfahrer:innen zu beachten sind. Während Navigationsanwendungen, die speziell barrierefreie Wege berechnen können, theoretisch eine großartige Möglichkeit sind, um Teilhabe zu stärken, bestehen in der Praxis große Mängel. Es ist eine ernüchternde Erkenntnis, dass Routen für Rollstuhlfahrer:innen meist deutlich länger und komplexer sind als die für Fußgänger:innen, wobei die Externalitäten stark von Stadt zu Stadt variieren. Dennoch ist diese Erkenntnis wichtig, um für noch bestehende Barrieren zu sensibilisieren und diese bestmöglich abzubauen.

Rolle von sekundären Kriterien

Bei den Route-Level Externalitäten ist spannend zu sehen, dass viele Anbieter nicht allein auf das Kriterium des kürzesten oder schnellsten Weges optimieren. Während dieses „kürzeste Wege“-Problem in der Informatik altbekannt ist und durch verschiedene Algorithmen angenähert werden kann, berücksichtigen Navigationssysteme oft sekundäre Kriterien. Zum Beispiel schlug die Routing-Plattform Waze während der Olympischen Spiele in Rio de Janiero Strecken vor, die Gebiete mit höheren Gewaltraten meiden. Solche Kriterien haben wiederum Rebound-Effekte: Zum einen möglicherweise mehr Sicherheit für die Nutzenden von Waze, zum anderen aber ökonomische Nachteile für die gemiedenen Stadtteile, wenn Kunden nicht mehr an Tankstellen oder Geschäften vorbeikommen.

Relevanz von normativen Fragestellungen

Sobald man hinter die Kulissen von Navigationsanwendungen schaut, wird ersichtlich, welchen Einfluss Optimierungskriterien haben und wie kompliziert die Abwägung ist. Es ergeben sich vielfältige normative Fragen: Wie viel Verkehr sollte durch Wohngegenden fließen? Wie groß dürfen die Umwege sein, die man Menschen in Rollstühlen zumutet? Sollten Orte, an denen regelmäßig Unfälle mit Fahradfahrer:innen geschehen, von Autos zukünftig gemieden werden?

Trotz der gesellschaftlichen Relevanz der Fragestellungen werden die Antworten aktuell in den Zentralen von Technologiekonzernen – im Zweifel mit Blick auf die Wirtschaftlichkeit der Anwendungen – getroffen. Die Offenlegung der Kriterien und verschiedenen Externalitäten ist aufgrund der Teilhaberelevanz aber enorm wichtig. Zum einen, weil erst mit Transparenz über gesamtgesellschaftliche Effekte Entwickler:innen diese auch beim Design der algorithmischen Systeme mitdenken können. Zum anderen, weil nur so eine gesellschaftliche Debatte über die Validität von Optimierungszielen geführt werden kann.

Es braucht diese Debatte, weil solch teilhaberelevante Fragestellungen nicht ausschließlich Technologiefirmen überlassen werden können. Denn rein von Unternehmen festgelegte Optimierungsziele können gänzlich entgegen von Gemeinwohl- und Nutzer:innen-Interessen stehen: Man stelle sich nur eine Zukunft vor, in der Werbekund:innen Navigationsherstellern Geld dafür zahlen, dass die Navigationssysteme längere Routen vorschlagen, um an den Geschäften der Werbekund:innen vorbeizuführen.

Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Debatte

Die Offenlegung der Optimierungskriterien ist allerdings nur ein erster Schritt, um die „gesellschaftliche Angemessenheit der Optimierungsziele“ überhaupt diskutieren zu können. Im Abschluss wird auch die Frage gestellt werden müssen, ob es Regulierungsbedarfe gibt, um das Vertrauen der Nutzer:innen langfristig (insbesondere in einer Zeit mit deutlich stärker automatisiertem Verkehr) zu sichern.

Um festzustellen, ob und ggf. wie Navigationsanwendungen reguliert werden sollten, brauchen wir zuerst einmal ein besseres Verständnis für die Wirkweisen der Systeme. Unsere Studien haben einen ersten Anstoß gegeben, doch sollte Forschung in dem Bereich noch deutlich verstärkt werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass alle Menschen von den Navigationslotsen profitieren und nicht an der Nase herumgeführt werden.


Vielen Dank an Julia Gundlach für die Redaktion des Textes und an alle Koautor:innen der wissenschaftlichen Arbeiten, die im Beitrag verlinkt sind.


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