Eine Bildmontage zeigt US-Präsident Donald Trump und seinen Herausforderer Joe Biden während Redeauftritten.

Die Demokratie auf dem Stimmzettel: Was bei den US-Wahlen auf dem Spiel steht

Am 3. November werden die Amerikaner:innen bei den folgenreichsten Wahlen seit Abraham Lincolns Wiederwahl mitten im Bürgerkrieg 1864 an die Urnen gehen. Es mag auf den ersten Blick übertrieben erscheinen, aber tatsächlich steht sowohl damals als auch heute die Zukunft der US-amerikanischen Republik auf dem Spiel.  Anthony Silberfeld von der Bertelsmann Foundation in Washington, DC erklärt, weshalb.

Nach fast vier Jahren im Amt hat Donald Trump die Vereinigten Staaten neu definiert. Die leuchtende Stadt auf dem Hügel ist dunkel geworden, eingehüllt in eine Wolke aus Missmanagement, Korruption und Demagogie. Der 45. Präsident der Vereinigten Staaten hat die stetige Erosion demokratischer Institutionen und Normen im eigenen Land und dessen Glaubwürdigkeit im Ausland vorangetrieben: beispielsweise mit der untauglichen Reaktion auf den COVID-19-Ausbruch, der mehr als 225.000 Amerikaner:innen das Leben gekostet hat, oder mit der Vermengung von Geschäften des Weißen Hauses mit privaten Geschäften, die der Trump Organization in den ersten drei Jahren seiner Präsidentschaft 1,9 Milliarden Dollar eingebracht haben.

Alle Blicke richten sich auf das Oval Office

Das Rennen, an das alle als erstes denken, liefern sich der republikanische Präsident Donald Trump und sein demokratischer Herausforderer Joe Biden. In den vergangenen Jahren hatten die Amerikaner:innen in der Regel die Wahl zwischen einem Mitte-Links-Kandidaten und einem Mitte-Rechts-Kandidaten, wobei es für die Wähler:innen reichlich Grauzonen gab, die ihnen am Wahltag ein Schwenken in die eine oder andere Richtung möglich machten.

Im Jahr 2020 besteht die Wahl jedoch nur zwischen schwarz oder weiß. In Stil und Inhalt könnten die beiden Kandidaten nicht unterschiedlicher sein. Trump setzt auf die Stärke seiner Wirtschaftsbilanz vor Corona und auf die Ernennung konservativer Richter:innen auf allen Ebenen der Justiz, um sich über die Zielgerade zu bringen. Biden seinerseits hat seine Kampagne um seine Person herum aufgebaut, in der Hoffnung, dass die Wähler:innen von Kompetenz, Anstand und der Absicht, ein tief gespaltenes Land zu vereinen, angezogen werden.

Zwar bietet diese Wahl klare Alternativen, doch die Kombination aus globaler Pandemie und Wahlbeeinträchtigungen hat diese Klarheit getrübt. Wie 2016 liegt der Kandidat der Demokraten in den nationalen Wahlumfragen und in wichtigen Swing States wie Florida, Michigan und Wisconsin deutlich vorn. Umfragen zeigen Biden auch in den ehemals republikanischen Hochburgen Arizona, Georgia und sogar Texas an der Spitze oder in einem statistischen Kopf-an-Kopf-Rennen.

Weshalb 2020 anders ist als 2016

Dieses Jahr ist jedoch in dreierlei Hinsicht anders. Erstens werden die Wähler:innen im Jahr 2020 in hohem Maße Briefwahl in Anspruch nehmen, um lange Schlangen und eine mögliche Gefährdung durch das Coronavirus am Wahltag zu vermeiden.

Zweitens verfolgen der Präsident, republikanische Beamt:innen und Wahlkampfhelfer:innen eine mehrgleisige Strategie, um die Wahlbeteiligung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen niedrig zu halten. Von der Verringerung der Anzahl der Wahllokale, über die Entfernung von Wahlurnen für die Briefwahl und die Einleitung rechtlicher Verfahren um einzuschränken, wer wann wählen darf, bis hin zu Trump, der den gesamten Prozess als "manipuliert" bezeichnet, bevor eine einzige Stimme ausgezählt worden ist: All dies hat das Vertrauen der Amerikaner:innen in den Prozess und vielleicht auch in das Endergebnis untergraben.

Drittens ist dies das erste Mal in der Geschichte der USA, dass sich ein amtierender Präsident weigert, eine friedliche Amtsübergabe zuzusichern. Zusammen haben diese Faktoren zu Unsicherheit bei den Wähler:innen geführt, wie es um den Zustand ihrer Demokratie bestellt ist und was am Wahltag und darüber hinaus geschehen wird.

Droht eine Verfassungskrise?

In den letzten Tagen des Wahlkampfes werden Biden und seine Unterstützer:innen ihren enormen finanziellen Vorteil gegenüber der Trump-Kampagne ausnutzen, indem sie die Swing States mit einer Mischung aus Wahlwerbung überschwemmen, die einerseits eine Rückkehr zur Normalität bewirbt, und andererseits den Präsidenten für jeden persönlichen und beruflichen Fehltritt anprangert. Trump hingegen wird sich fast ausschließlich darauf verlassen, eine Reihe von Kundgebungen abzuhalten, die seine Anhänger:innen motivieren und den Eindruck erwecken sollen, dass es nach wie vor eine breite Unterstützung für seine Person und Politik gibt.

Am näherrückenden Wahltag werden die Amerikaner:innen mit Spannung schnelle Ergebnisse erwarten, doch dazu wird es nicht kommen. Es wird Zeit brauchen, die Flut von Briefwahlzetteln auszuzählen, zudem beginnen in den meisten Bundesstaaten die Auszählungen erst nach Abschluss der Wahlen am 3. November. Das bedeutet, dass es Tage oder Wochen dauern könnte, bis wir wissen, wer das Oval Office als nächstes besetzen wird, und diese Unsicherheit öffnet Tor und Tür für allerlei Machenschaften.

Expert:innen sagen voraus, dass Demokrat:innen eher per Post abstimmen werden, und Republikaner:innen bei der persönlichen Stimmabgabe im Wahllokal einen Vorsprung haben werden. Vermutlich werden also die ersten Ergebnisse Donald Trump in Führung zeigen. Wird er sich vorzeitig zum Sieger erklären und damit das Land in eine Verfassungskrise stürzen, oder wird er warten, bis die Ergebnisse endgültig sind, wann immer das sein mag? Die gängige Meinung in Washington ist derzeit, dass nur ein erdrutschartiger Sieg Bidens rhetorischen und juristischen Anfechtungen durch Trumps Wahlkampfteam, die den Prozess über Monate in die Länge ziehen könnten, zuvorkommen würde.

Checks and Balances

Wenn wir unseren Blick entlang der Pennsylvania Avenue in Washington nach Osten richten, sehen wir das US-Kapitol und seine beiden Kammern sich für einen politischen Umbruch wappnen. Im Senat verfügen die Republikaner derzeit über eine Mehrheit von 53 zu 47 Stimmen, die es ihnen ermöglicht hat, Richter:innen zu bestätigen, über das Schicksal aller Gesetzesvorlagen zu entscheiden und die Bedingungen für die Aufsicht der Exekutive zu diktieren – einschließlich der Frage, ob der Präsident in seinem Amtsenthebungsverfahren verurteilt oder freigesprochen werden soll.

Allerdings bietet die politische Landkarte im Jahr 2020 den Demokraten einen Vorteil: Viele der Sitze, die in diesem Jahr zur Wahl stehen, liegen in Bundesstaaten, in denen Donald Trumps Popularität schwindet. Die wichtigsten Senatswahlen werden in Arizona, Iowa, Michigan, Alaska, Mississippi, South Carolina und Texas stattfinden. Wenn die Demokraten vier dieser Wahlen gewinnen, werden sie die Mehrheit im Senat und alle damit verbundenen politischen Möglichkeiten zurückgewinnen.  

Auf der anderen Seite des Kapitols sieht die Wahl weniger dramatisch aus. Doch nach einer Wahlperiode, in der fast 400 der von den Demokraten im Repräsentantenhaus verabschiedeten Gesetzesvorlagen von den Republikanern im Senat blockiert und dadurch nie Gesetz wurden, warten die Abgeordneten der Demokraten ungeduldig auf die neue Zusammensetzung des Senats. Obwohl bei dieser Wahl alle 435 Sitze im Repräsentantenhaus besetzt werden, hat Gerrymandering – die parteipolitisch motivierte Manipulation von Wahlkreisgrenzen – dafür gesorgt, dass es bei lediglich zehn Sitzen zu einem tatsächlichen Rennen kommen wird.

Es wird erwartet, dass die Demokraten die Kontrolle über die Kammer behalten und möglicherweise ihre Mehrheit um eine Handvoll Sitze ausbauen werden. Ein Durchmarsch im Kampf um beide Parlamentskammern und das Weiße Haus würde den Demokraten die Möglichkeit bieten, ihre Agenda voranzubringen, und den Republikanern nur noch wenig Handlungsspielraum lassen.

Was nun vor den USA liegt

Mittels Briefwahl und vorzeitiger Stimmabgabe haben bereits fast 70 Millionen Amerikaner:innen ihre Stimme abgegeben. Sowohl die republikanischen als auch die demokratischen Anhänger:innen sind hochmotiviert, zur Wahl zu gehen, sodass die Wahlbeteiligung voraussichtlich ein Allzeithoch erreichen wird. Bei den Wahlen 2016 haben 100 Millionen Wahlberechtigte nicht gewählt. Durch die festgefahrene Position der Parteianhänger:innen im Jahr 2020 werden gerade diejenigen, die normalerweise nicht wählen, in diesem Rennen eine entscheidende Rolle spielen.

Ungeachtet dessen, was wir Amerikaner:innen uns in unserer Geschichte eingeredet haben, war unsere Demokratie nie perfekt. Doch das Bestreben, unsere Grundprinzipien voranzutreiben und zu bewahren, wurde selten in Zweifel gezogen. Heute tritt die Regierung diese Prinzipien mit Füßen, indem sie die freie Presse verteufelt, ihre Macht für eigene politische Ziele missbraucht, die Opposition unterdrückt und das Vertrauen der Öffentlichkeit in unsere Institutionen untergräbt. Am 3. November werden die Wähler:innen entscheiden, ob das nächste Kapitel des amerikanischen Experiments eine Geschichte der Erlösung sein wird oder ob wir beginnen werden, ein ganz neues Buch zu schreiben.

Nachtrag 03.11.2020: In den USA ist die Zahl der an COVID-19 Verstorbenen inzwischen auf mehr als 231.000 und die Zahl der Brief- und Frühwähler:innen auf knapp 100 Millionen gestiegen.