Mutter hilft ihrer Tochter, die Hörgeräte trägt, bei den Schulaufgaben

Im Lichte von Corona: Eltern von Kindern mit Förderbedarf wünschen sich mehr Unterstützung durch Schulen und Politik

In der Zeit der coronabedingten Schulschließungen haben sich viele Mütter und Väter von Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf allein gelassen und überfordert gefühlt. Für die Zukunft erwarten sie deutlich mehr Hilfestellung und bessere Rahmenbedingungen für den Unterricht. Digitale Lernmittel sowie einen engeren Kontakt zu Lehrkräften und Mitschüler:innen empfinden sie als besonders wichtig für die individuelle Förderung. An der positiven Grundhaltung von Eltern zur Inklusion haben die belastenden Erfahrungen der Pandemie nichts geändert.

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Dr. Nicole Hollenbach-Biele
Senior Expert Schulforschung und Schulentwicklung

Angesichts ihrer Erfahrungen aus der Zeit der coronabedingten Schulschließungen wünschen sich Eltern von Kindern mit Förderbedarf künftig eine deutlich größere Unterstützung. Das gilt sowohl für Mütter und Väter, deren Kinder inklusiv unterrichtet werden, als auch für solche, deren Kinder eine Förderschule besuchen. Dabei steht der engere Kontakt mit der Schule und den Lehrkräften an erster Stelle: 75 Prozent der Befragten möchten für den Fall einer erneuten Distanzlern-Phase einen intensiveren, regelmäßigeren Austausch über die Lernherausforderungen ihres Kindes gewährleistet sehen. 73 Prozent von ihnen benötigen mehr Hinweise, wie ihr Kind die gestellten Aufgaben bearbeiten kann. Größere Hilfestellung bei der Verwendung digitaler Endgeräte und Anwendungen – nicht nur im Distanzlernen, sondern auch im Präsenzunterricht – wünschen sich 62 Prozent der Eltern. Mehr Kontakte ihres Kindes zur Klassengemeinschaft oder zu einzelnen Mitschüler:innen spielen für 55 Prozent der Befragten eine wichtige Rolle. 44 Prozent der Eltern legen Wert auf einen häufigeren Austausch mit der Schulassistenz, von der sie sich Unterstützungen erhoffen, die von konkreter Lernhilfe bis zu allgemeinen Fördermaßnahmen reichen können. Ob dieser Austausch per Telefon, Videoanruf oder E-Mail erfolgt, ist für die meisten dabei zweitrangig. Im Zuge einer repräsentativen Erhebung wurden fast 2.900 Eltern, darunter mehr als 600 Mütter und Väter von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, befragt.

„Für alle Eltern – und vor allem für die Mütter und Väter von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf – gingen die Schulschließungen in diesem Jahr mit hohen Belastungen einher. Sie fühlten sich über weite Strecken alleingelassen und waren damit überfordert, ihr Kind beim Lernen zu begleiten oder gar darüber hinaus zu fördern“, sagt Nicole Hollenbach-Biele, Expertin für Schulforschung und Schulentwicklung. Die Pandemie hat Eltern vor Augen geführt, wie wichtig die individuelle Ansprache der Kinder durch die Lehrkraft und der Austausch mit den Mitschüler:innen ist. Viele der befragten Mütter und Väter haben mit Besorgnis festgestellt, vor welchen Hürden die Schüler:innen in Bezug auf digitale Medien stehen und wie schnell Kinder und Jugendliche in ihrer schulischen Entwicklung zurückzufallen drohen, wenn sie isoliert am heimischen Schreibtisch lernen. „Die Sorgen der Eltern sind ernst zu nehmen und verlangen nach wirksamen Antworten von Bildungspolitik und Verwaltung“, so Hollenbach-Biele weiter.

Sorgen über wachsendes Gefälle in den Lernleistungen

Mütter und Väter befürchten, dass infolge der Schulschließungen die Lern- und Leistungsunterschiede deutlich gewachsen sind und es Förderkinder zukünftig besonders schwer haben werden, den Anschluss wiederzufinden und zu halten. Zudem haben 52 Prozent der Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Lernmöglichkeiten ihres Kindes in der Phase des Distanzlernens als schlecht bewertet. So gab etwa die Hälfte aller Mütter und Väter an, nur einmal im Monat oder noch seltener Unterstützungsangebote zur Lernorganisation, Hinweise zur Bearbeitung der Aufgaben oder Feedback der Lehrkräfte zu den Lernergebnissen erhalten zu haben. Insgesamt beklagen viele Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, dass die (Lern-)Bedürfnisse im Distanzlernen von schulischer Seite zu wenig berücksichtigt worden seien.

Deshalb ist die individuelle Förderung ihres Kindes vielen Müttern und Vätern ein zentrales Anliegen. Das gilt unabhängig davon, ob der Unterricht auf Distanz, im Klassenverbund oder in Mischformen erteilt wird. Digitale Lernphasen halten Eltern besonders dann für erfolgreich, wenn Lehrer:innen gemeinsam mit den Schüler:innen im digitalen Schulalltag individuelle Lernfortschritte in der Gruppe erzielen können – zum Beispiel über Portallösungen, Chaträume und Videokonferenzen.

Die Eltern sehen durchaus Vorteile des digitalen Lernens für die individuelle Förderung ihres Kindes, wollen sie aber mit dem sozialen Lernerlebnis in der Klassengemeinschaft verknüpft wissen. Digitale Medien müssen dort, wo sie bereits vorhanden sind, jetzt auch genau für das kollaborative Lernen genutzt werden.

Nicole Hollenbach-Biele, Senior Expert Schulforschung und Schulentwicklung, Bertelsmann Stiftung

Gerade für das gemeinsame Erarbeiten der Unterrichtsinhalte über Distanz wiesen digitale Anwendungen erhebliches Potenzial auf.

Nicht nur neue Technik, sondern eine Verbesserung des Lernens

Diese Erfahrungen spiegeln sich auch in den Erwartungen der Eltern an die Bildungspolitik wider. Mütter und Väter von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf erhoffen sich vor allem mehr Investitionen in die bauliche und technische Ausstattung der Schulen. Insbesondere die finanziellen Mittel aus dem Digitalpakt Schule sollten konsequent abgerufen und für eine Modernisierung der digitalen Infrastruktur genutzt werden. Dabei legen sie Wert darauf, dass die Verteilung neuer digitaler Endgeräte nicht einfach nach dem Gießkannenprinzip erfolgt, sondern dass sie sich an den Gegebenheiten im Elternhaus, am individuellen Förderbedarf sowie an den Vorkenntnissen des Kindes orientiert. So benötigt beispielsweise ein Kind mit Sehbeeinträchtigung ein Endgerät mit großem Bildschirm sowie eine App, die Inhalte vorliest.

Als genauso wichtig erachten die Mütter und Väter Verbesserungen des digitalen Lernens selbst. „Aus Sicht der von uns befragten Eltern erschöpft sich die Digitalisierung von Schule nicht darin, dass alle Kinder ein Tablet bekommen. Vielmehr müssen Lehrkräfte mit digitalen Plattformen umgehen können, Material und Aufgaben richtig aussuchen und zusammen mit den Kindern erarbeiten“, erklärt Hollenbach-Biele. Mit Blick auf den weiteren Umgang mit dem Corona-Virus ist den Müttern und Vätern wichtig, dass die potenziellen Gesundheitsrisiken situationsangemessen beurteilt werden und kreative Lösungen für einen möglichst ununterbrochenen Schulbesuch gefunden werden. Als übergeordneten Wunsch äußern die befragten Eltern, dass das gesamte Schulsystem aus den Versäumnissen der Corona-Schulschließungen lernt.

Zustimmung zum inklusiven Schulsystem konstant

An der grundsätzlichen Einstellung der Eltern zur Inklusion – ganz gleich, ob ihre Kinder förderbedürftig sind oder nicht – haben die Erfahrungen der Corona-Zeit bisher nichts geändert. Als Vergleichspunkte dienen hier Elternbefragungen aus den Jahren 2015 und 2019. So ist der Anteil von Eltern, die Inklusion uneingeschränkt befürworten, über die drei Zeitpunkte leicht gestiegen – von 21 Prozent im Jahr 2015 über 24 Prozent 2019 auf aktuell 25 Prozent. Etwas kleiner geworden wiederum ist die Gruppe der Mütter und Väter, die den Besuch einer inklusiven Schule von der Art des Förderbedarfs abhängig machen würden – 2015 lag ihr Anteil bei 70 Prozent, 2019 bei 63 Prozent und aktuell liegt er bei 64 Prozent. „Die Zustimmung zu einem inklusiven Schulsystem ist trotz der teils negativen Erfahrungen in der Corona-Zeit vor Ort insgesamt konstant geblieben. Die Politik sollte diesen Rückenwind nutzen, um ihrer Verpflichtung nachzukommen, die Vereinbarungen der UN-Behindertenrechtskonvention in den nächsten Jahren deutschlandweit umzusetzen“, sagt Hollenbach-Biele.