Gruppe junger Leute beugt sich am Tisch über Unterlagen

Selbstständige mit Migrationshintergrund: Jobmotor für Deutschland

Unternehmer:innen mit Migrationshintergrund leisten in wachsendem Umfang Beiträge zu Beschäftigung und wirtschaftlicher Dynamik in Deutschland. Das zeigen zwei aktuelle Studien in unserem Auftrag. Weitere wichtige Erkenntnis: Es gibt noch Luft nach oben, Förder- und Beratungsstrukturen müssen angepasst und es muss mehr in Bildung investiert werden. Zudem muss auch diese Gruppe von Unternehmer:innen bei der Bewältigung der Corona-Krise unterstützt werden.

Ansprechpartner

Das kann bereits am kommenden Montag, 19. Oktober, passieren. Dann lädt Bundeskanzlerin Angela Merkel zum 12. Integrationsgipfel nach Berlin ein. Auf dem Tisch liegt ein nationaler Integrationsplan mit zahlreichen Maßnahmen, um die Integration und das Fuß fassen in Deutschland zu verbessern. „Vielfalt hat Deutschland stark gemacht“, sagt Integrationsstaatsministerin Annette Widmann-Mauz. „Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie treffen zugleich auch Unternehmerinnen, Unternehmer, Beschäftigte und Auszubildende mit Einwanderungsgeschichte besonders hart.“ 

Hoher Beschäftigungseffekt

Wie groß der Beitrag von Unternehmer:innen mit ausländischen Wurzeln ist, zeigen imposante Zahlen: Die Zahl der in Migrantenunternehmen Beschäftigen wuchs zwischen 2005 und 2018 von rund 1 Million Personen um 50 Prozent auf rund 1,5 Millionen. Der gesamtwirtschaftliche Beschäftigungseffekt – dazu zählen die geschaffenen Arbeitsplätze sowie Arbeitgeber und Alleinunternehmer mit Migrationsgeschichte – ist sogar von 1,55 Millionen auf 2,27 Millionen Personen gewachsen. Das zeigt die Studie der Prognos AG im Auftrag der Bertelsmann Stiftung „Migrantenunternehmen in Deutschland zwischen 2005 und 2018. Ausmaß, ökonomische Bedeutung und Einflussfaktoren auf Ebene der Bundesländer“. Besonders hoch war der Beschäftigungseffekt in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg.

Die Selbstständigen mit Zuwanderungsgeschichte könnten jedoch noch erfolgreicher sein. Die Selbstständigenquote von Migrant:innen ließe sich um etwa fünf Prozentpunkte steigern und das durchschnittliche monatliche Nettoeinkommen der Unternehmer:innen könnte um rund 200 Euro wachsen. Dies haben die Experten mit Hilfe einer Regressionsanalyse errechnet, die die zentralen Determinanten für die Selbstständigkeit einbezieht. Voraussetzung ist, dass mehr für die Bildung und für Förder- und Beratungsstrukturen getan werde. 

"Eine Verbesserung des Qualifikationsniveaus der Bevölkerung mit Migrationshintergrund könnte nicht nur zu mehr Unternehmertum in dieser Bevölkerungsgruppe beitragen, sondern würde auch helfen, den wirtschaftlichen Beitrag und den wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmer und Unternehmerinnen mit Migrationshintergrund substanziell zu steigern".

Armando García Schmidt, Studienleiter, Bertelsmann Stiftung

Immer mehr Unternehmerinnen

Auch ohne diese zusätzlichen Maßnahmen ist die Zahl der Unternehmer:innen mit Migrationshintergrund von 2005 bis 2018 um 36 Prozent auf 773.000 Selbstständige gestiegen. Sogar um 57 Prozent legte die Zahl selbstständiger Frauen mit Migrationshintergrund im Betrachtungszeitraum zu. Mehr als ein Drittel aller Selbstständigen mit Zuwanderungsgeschichte sind heute Frauen. Die Zahl der Selbstständigen ohne Zuwanderungsgeschichte sank hingegen drastisch: 2018 gab es 275.000 weniger Selbstständige ohne Migrationshintergrund als im Jahr 2005. Abnehmende Gründungs- und Unternehmensdynamik kennzeichnen den Wirtschaftsstandort Deutschland schon lange. Die Studie zeigt: ohne Zuwanderung wäre die Gründungsmisere in Deutschland um ein Vielfaches dramatischer.

Nettoeinkommen ist deutlich gestiegen

Selbstständigkeit ist ein Treiber für höheres Einkommen und Wohlstand. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Menschen mit oder ohne Zuwanderungsgeschichte handelt.  Unternehmer:innen ohne Migrationshintergrund haben ihr durchschnittliches monatliches Netto-Einkommen von 2005 bis 2018 um 38 Prozent oder 900 Euro auf 3.200 Euro steigern können (ohne Preisbereinigung). Dahinter bleiben die Zahlen der Selbstständigen mit ausländischen Wurzeln zurück. Aber auch sie erreichten ein Plus von 32 Prozent oder gut 600 Euro auf ein monatliches Nettoeinkommen von rund 2.500 Euro. Damit übertreffen die Selbstständigen mit Migrationshintergrund das durchschnittliche Netto-Einkommen von abhängig Beschäftigten mit Migrationshintergrund um 44 Prozent. Letzteres liegt bei rund 1.700 Euro im Monat.

Das Profil der Unternehmer:innen mit Migrationshintergrund verändert sich. Mehr als die Hälfte der Selbstständigen mit Zuwanderungsgeschichte (55 Prozent) ist mittlerweile im Dienstleistungsbereich außerhalb von Handel und Gastronomie tätig. Handel und Gastgewerbe machen nur noch rund 25 Prozent aus, ein Rückgang um dreizehn Prozent im Vergleich zu 2005. Knapp 198.000 Unternehmer:innen und damit 18.000 weniger als 2005 arbeiteten 2018 In Handel und Gastgewerbe. In allen anderen Branchen – mit Ausnahme der Landwirtschaft – gab es 2018 mehr Unternehmer:innen mit Migrationshintergrund als 2005.

Migrant:innen federn Gründungsrückgang in NRW ab

Einen genaueren Blick auf Nordrhein-Westfalen wirft eine zweite Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Die Studie „Ausländische Staatsangehörige als Gründer in NRW zwischen 2003 und 2018“ des Instituts für Mittelstandsforschung Bonn verdeutlicht zunächst, wie dramatisch die Situation im bevölkerungsstärksten Bundesland in punkto Unternehmensdynamik ist: Seit 2011 übersteigt die Zahl der gewerblichen Unternehmensaufgaben die der gewerblichen Existenzgründungen bei Weitem: Im gewerblichen Teil der Wirtschaft scheiden rund 5.800 Unternehmen im Jahr durchschnittlich mehr aus als Neugründungen hinzukommen. Zwischen 2011 und 2018 ist der Gesamtbestand an Unternehmen in NRW insgesamt um rund 8.500 Unternehmen geschrumpft.

Die Studie zeigt auch, dass diese Entwicklung noch viel drastischer wäre, wenn es in dieser Zeit keine Zuwanderung gegeben hätte: Ohne die überdurchschnittlichen Gründungsaktivitäten ausländischer Staatsangehöriger wäre der gewerbliche Unternehmensbestand zwischen Rhein und Weser noch weitaus stärker eingebrochen. Im Jahr 2018 gehen in NRW 39,2 Prozent aller gewerblichen Existenzgründungen auf ausländische Staatsangehörige zurück.

Rheinland ist Spitzenreiter

Interessant ist auch der regionale Vergleich. Die Gründungsaktivitäten sind in den betrachteten neun Wirtschaftsregionen von Nordrhein-Westfalen keineswegs gleichmäßig stark ausgeprägt. Die unterschiedlichen Gründungsvoraussetzungen beeinflussen die Gründungsneigung von ausländischen und die von deutschen Staatsangehörigen gleichermaßen.

Die meisten Gründungen gibt es in den Regionen Düsseldorf, Köln-Bonn und Niederrhein. Schlusslichter sind das Münsterland, Südwestfalen und Ostwestfalen-Lippe. An der Rangfolge der Regionen hat sich seit den frühen 2000er-Jahren nur wenig geändert: Gründungsstarke Regionen blieben über die Jahre gründungsstark, gründungsschwache Regionen blieben gründungsschwach.

Diese Unterschiede haben wohl strukturelle Gründe. Während sich in den starken Regionen Düsseldorf und Köln-Bonn die weit überdurchschnittliche Wirtschaftskraft günstig auszuwirken scheint, sorgte in den Regionen Münsterland, Ostwestfalen-Lippe und Südwestfalen offenbar die günstige Lage am Arbeitsmarkt im Betrachtungszeitraum dafür, dass weniger Impulse für das Gründungsgeschehen ausgingen. Anders gesagt: In diesen Regionen gibt es schlicht keine Notwendigkeit, sich selbstständig zu machen, die Gründungskultur ist somit schwächer ausgeprägt.

Und Corona?

Aufgrund der Datenlage beziehen sich beide Studien auf die Entwicklung bis zum Jahr 2018. Eine empirische Aussage über den Effekt der Corona-Krise ist aktuell nicht möglich. Fakt ist, die Corona-Krise bedroht die Existenz gerade vieler kleiner und mittlerer Unternehmen. Besonders bedroht sind junge Unternehmen, die noch nicht über eine solide finanzielle Basis verfügen und Unternehmen in spezifischen Branchen wie dem Einzelhandel und der Gastronomie. Das Baugewerbe und Teile des Verarbeitenden Gewerbes sind – aktuell betrachtet – einem geringeren Risiko ausgesetzt. Dementsprechend sehen sich Unternehmer:innen mit Migrationshintergrund ebenso wie Selbständige ohne Zuwanderungsgeschichte je nach Betätigungsfeld aktuell sehr unterschiedlichen Szenarien gegenüber.

In der Erholungsphase nach der Corona-Krise wird es entscheidend darauf ankommen, dass in Deutschland neue Unternehmen an den Start gehen. Beschäftigung, Wachstumsaussichten und Wohlstand hängen in entscheidendem Maße davon ab. Anreize, Beratungs- und Unterstützungsleistungen sollte Wirtschaftspolitik auf Bundes- und Landesebene setzen. Das Potenzial von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sollte dabei nicht aus dem Blick geraten.