Gruppenfoto der Teilnehmer:innen des Polittalks im Studio des rbb: Moderator Stefan Braun, Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, Demokratie-Experte Robert Vehrkamp, SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz und Moderatorin Angela Ulrich.

"So viel Wechselstimmung vor einer Wahl war noch nie"

Die Mehrheit der Menschen in Deutschland wünscht sich laut unserer Umfrage eine andere Bundesregierung. Am Montag haben die Grünen-Co-Vorsitzende Annalena Baerbock und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) im "#Polittalk aus der Hauptstadt" erklärt, wie sie einen Wechsel schaffen wollen. Es war das erste Aufeinandertreffen der beiden Politiker:innen, seit sie als Kanzlerkandidat:in nominiert wurden.

Mit in der Runde saß unser Demokratie-Experte Robert Vehrkamp. "Dass es nach 16 Jahren mit derselben Bundeskanzlerin eine Wechselstimmung in Deutschland gibt, ist an sich nichts Ungewöhnliches", stellte Vehrkamp fest. Wie deutlich sich die Menschen in der repräsentativen Umfrage in unserem Auftrag einen Wechsel der Bundesregierung wünschen, sei jedoch durchaus überraschend. Rund 62 Prozent der Befragten glauben, dass es gut sei, wenn die Regierung wechselt. "Das sind die höchsten Werte seit Anfang der 1990er Jahre, seitdem diese Frage erstmals erhoben worden ist", so Vehrkamp. 

Bei der 75-minütigen Diskussionsveranstaltung, die wir gemeinsam mit dem Inforadio des rbb und der Süddeutschen Zeitung veranstaltet haben, wurde schnell klar, dass die beiden Politiker:innen in einigen Punkten einig sind. 

Auf die Anfeindungen ihrer Person gegenüber in den sozialen Medien angesprochen, sagte Baerbock zu Beginn der Debatte: "Was ich in den letzten Wochen über mich gehört und gelesen habe, tut uns als Gesellschaft nicht gut. Ich tue alles, um das zu ändern." Sie stehe stellvertretend für Menschen mit einem ähnlichen Lebenslauf, machte die Grünen-Chefin klar. Olaf Scholz unterstützte diesen Punkt: "Ich finde die Vorwürfe gegen Annalena Baerbock unmöglich. Das gehört sich nicht. Es hat auch in meiner politischen Laufbahn heftigste Angriffe gegeben. Es war für mich immer so, dass ich mir sicher bin, wer ich bin. Ich bin Politiker aus Überzeugung. Es geht um unser Land und ich möchte etwas tun für unsere Bürger."

Kritik und Selbstkritik am Corona-Management der Bundesregierung

Dabei verwies Scholz immer wieder im Laufe der Debatte auf seine große politische Erfahrung, um sich von Baerbock abzugrenzen. "Ich bin froh, dass ich in Hamburg die Regierung übernommen habe, mit allen Erfahrungen, die ich damals gemacht habe. Und ich traue mir jetzt mit meiner Erfahrung die politische Führung dieses Landes zu." Baerbock habe Respekt vor dem Kanzleramt, aber führungsscheu sei sie nicht. Sonst würde sie nicht antreten, machte die Grünen-Politikerin klar.  

Bei der Bewertung der Corona-Politik zeigten sich dann erste inhaltlich Unterschiede. Scholz wiederholte selbstkritisch: "Es hätte bei der Bestellung des Impfstoffes in Europa anders laufen müssen." Baerbock griff an dieser Stelle Scholz an: "Wir fahren auf Sicht und gucken mal, was passiert. Das halte ich für falsch. Wir haben im vergangenen Jahr die Schulen dicht gemacht ohne zu wissen, wie es weitergeht", kritisierte somit Baerbock die aktuelle Bundesregierung.

Die Deutschen wollen einen Politikwechsel in verschiedenen Themenfeldern

Die Wähler:innen würden dabei in vielen verschiedenen Politikbereichen einen deutlichen Kurswechsel befürworten. Die meisten Menschen (55,4 Prozent) wünschen sich eine neue Umwelt- und Klimaschutzpolitik, dicht gefolgt von der Flüchtlings- und Integrationspolitik (54,9 Prozent), Renten- (53,9 Prozent) und Bildungspolitik (52,4 Prozent). Auch der Wunsch nach einem Politikwechsel in der Bekämpfung der Corona-Pandemie bleibt auf hohem Niveau (52,1 Prozent). Deutlich weniger wichtig erscheint den Menschen ein Politikwechsel in der Finanzpolitik (37,3 Prozent), bei der inneren Sicherheit (35,4 Prozent) und in der Europapolitik (25,3 Prozent). 

Den Menschen gehe es laut der Umfrage nicht ausschließlich darum, andere Parteien in der Regierung zu haben. Stattdessen gehe es eher um einen substanziellen Politikwechsel. "Wer es schafft, diesen Wind der Veränderung hinter seine Segel zu bekommen, der muss sich um sein Wahlergebnis im September keine Sorgen machen", glaubt Demokratie-Experte Vehrkamp. Auch die aktuellen Regierungsparteien der Union und SPD hätten noch die Chance dazu.

Baerbock setzt in Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik auf Europa

Dass den Menschen neben der aktuellen Corona-Krise nach wie vor auch die Flüchtlingskrise als Thema unter den Nägeln brenne, überraschte die beiden Spitzenpolitiker:innen nicht. "So lange das Einkommensgefälle in der Welt so groß bleibt, wird das Thema immer sehr aktuell bleiben", sagte Scholz. "Und darauf muss man eine Antwort geben: Eine pragmatisch-humanitäre Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik zu machen. Denn das wird in den kommenden Jahrzehnten eine Herausforderung bleiben."

Baerbock sieht die Lösung dieses Problems in Europa. "Wir werden diese Frage nur gemeinsam auf europäischer Ebene lösen. Und auch in den vergangenen Jahren ist man in der Flüchtlingspolitik auf Sicht gefahren und das Problem wurde nicht gelöst", so die 40-Jährige. "Mein Vorschlag ist ein doppelter Paradigmenwechsel. Es müssen sich die europäischen Länder zusammentun, die eine gemeinsame Wertebasis in dieser Frage haben. Das sind zehn bis zwölf Länder und die sollten vorangehen."

Auf die Risiken neuer gesellschaftlicher Spaltungen in der Klima- und Flüchtlingspolitik wies auch Robert Vehrkamp hin: "Beide Themen polarisieren die Gesellschaft entlang der neuen Konfliktlinien jenseits der alten sozial-ökonomischen Muster". Es gehe dabei vor allem um Werte und Identitäten, deren Vermittlung und Befriedung viel schwieriger sei als die Bearbeitung reiner Verteilungskonflikte.

Scholz: Ausbau erneuerbarer Energien geht nicht ohne die Privatwirtschaft

Einigkeit herrschte zwischen beiden Politiker:innen außerdem beim aktuellen Thema des wieder aufflammenden Antisemitismus: "Dass Synagogen in Deutschland angegriffen werden, ist furchtbar. Hier müssen die geltenden Gesetze durchgesetzt werden", sagte SPD-Politiker Scholz und Baerbock stimmte uneingeschränkt zu. 

Das Thema Klima-Politik sorgte hingegen wieder für politischen Streit in der Sendung: "Die Menschen erleben die Klimakrise hautnah. Deswegen dürfen wir nicht nur auf den CO2-Preis schauen, sondern müssen Subventionen, zum Beispiel auf Diesel, abschaffen. Da hätte ich mir vom Finanzminister mehr gewünscht", kritisierte Baerbock sehr direkt ihren Gesprächspartner. "Ich finde es nicht richtig, abstrakt zu bleiben. Man muss konkret sagen, was das bedeutet. Deswegen bin ich als Minister behutsam vorgegangen", verteidigte Scholz seine politischen Entscheidungen der Vergangenheit bei dem Thema und stellte klar: "Die Ausbauziele für erneuerbare Energien sind die entscheidende Frage für die Zukunft unseres Landes. Wenn wir das nicht angehen, versündigen wir uns an der Zukunft künftiger Generationen", so der Vizekanzler. Finanzieren will der Bundesfinanzminister dies künftig durch "privatwirtschaftliche Investitionen. Nur mit Steuern können wir das nicht leisten. Dafür ist die Aufgabe zu groß. Die Politik kann nur den Rahmen schaffen." 

Baerbock, sollte sie es ins Kanzleramt schaffen, möchte hingegen die Schuldenbremse erweitern, den Spitzensteuersatz erhöhen und eine Vermögenssteuer wieder einführen.  

Der "#Polittalk aus der Hauptstadt" wurde moderiert von Angela Ulrich (rbb) und Stefan Braun (Süddeutsche Zeitung). Er fand im Studio 14 des rbb in Berlin unter Berücksichtigung der aktuellen Corona-Regeln statt und wurde live im Internet übertragen. Die Veranstaltung können Sie unten in der Aufzeichnung bis zum 30. September 2021 noch einmal komplett sehen.