Die Diskussionsteilnehmer auf dem Podium: Prof. Dr. Anette Schad-Seifert, Junichi Sato, Moderatorin Dr. Sylke Tempel und Prof. Dr. Axel Berkofsky.

Gefangen in der Dauerflaute: Japan vier Jahre nach Fukushima

Am vierten Jahrestag der Fukushima-Katastrophe diskutierte eine internationale Expertenrunde in Berlin über Japan. Die ostasiatische Wirtschaftsmacht steckt seit einem Vierteljahrhundert in der Dauerkrise und bräuchte dringend grundlegende Reformen.

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Viele der strukturellen Probleme, mit denen Japan kämpft, sind auch Deutschland wohl bekannt. Dauerhaft schwaches Wirtschaftswachstum, exorbitante Staatsverschuldung, mangelnde Innovationskraft und eine rapide alternde Bevölkerung: Japan, in den achtziger Jahren noch Vorzeige-Wirtschaftsnation, sucht seit 25 Jahren vergeblich nach einem Rezept gegen die Stagnation. Vier Jahre nach der verheerenden Reaktorkatastrophe von Fukushima ist zudem unklar, wie Tokio seine Energieversorgung künftig gestalten will.

Wie lässt sich Japans Wirtschaft wieder auf Kurs bringen? Welche Impulse kann die Politik geben, um die Kreativität des Landes freizusetzen, das der Welt einst den Hochgeschwindigkeitszug und den Walkman bescherte? Wie können Frauen stärker in den Arbeitsmarkt einbezogen und eine vielfältigere Ökonomie aufgebaut werden? Und was wären die Bausteine einer modernen und nachhaltigen Energiepolitik für das ressourcenarme Land? Diese Fragen wurden am Mittwoch in der Berliner Bertelsmann Repräsentanz diskutiert, auf Einladung der Bertelsmann Stiftung und der Zeitschrift "Internationale Politik" (IP) im Rahmen der Dialogreihe "Asia Briefings". Auf dem Panel saßen Junichi Sato (Executive Director, Greenpeace Japan), Axel Berkofsky (Professor für asiatische Geschichte, Universität Pavia, Italien) und Annette Schad-Seifert (Professorin für Modernes Japan, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf).

Regierung Abe scheut Widerstand von Interessengruppen

Anlass der Veranstaltung war neben dem vierten Jahrestag der Fukushima-Katastrophe auch das neu erschienene IP-Länderporträt Japan, an dessen inhaltlicher Entwicklung das Programm "Deutschland und Asien" der Bertelsmann Stiftung beteiligt war. Bernhard Bartsch analysiert darin unter dem Titel "Ehrenwerte Familien" die Machtstrukturen in der japanischen Elite. Im Vorfeld der Diskussion veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung auch einen Asia Policy Brief von Axel Berkofsky zum Thema: "Japan wieder unter Shinzo Abe – Neuanfang oder eher alter Wein aus neuen Schläuchen?"

In der von Sylke Tempel (Chefredakteurin der Zeitschrift IP) moderierten Podiumsdiskussion bestand Einigkeit darüber, dass tiefgreifende Reformen in der japanischen Wirtschaft und Gesellschaft seit langem überfällig seien. Dass diese derzeit nicht in Angriff genommen werden, liege vor allem am mangelnden politischen Willen der Regierung Abe. Die Vorschläge für wichtige Reformmaßnahmen lägen bereit und die zu ihrer Umsetzung erforderlichen politischen Mehrheiten seien vorhanden, sagte Axel Berkofsky. Trotzdem scheue die regierende Liberaldemokratische Partei (LDP) aus Rücksicht auf einflussreiche Interessengruppen, heikle Themen wie Migration oder die Förderung von Frauen im Berufsleben anzugehen.

Hauptproblem alternde Bevölkerung

Dabei sei mehr Diversität ein Schlüsselfaktor für die Zukunftsfähigkeit eines post-industriellen Landes wie Japan, erklärte Annette Schad-Seifert. Dass eine größere Einbeziehung von Frauen wirtschaftlich dringend geboten ist, sei der japanischen Regierung seit den neunziger Jahren bewusst. Als konkrete Lösung wurden Änderungen in der Besteuerung von Ehepaaren genannt. Bislang blieben diese aber aus. Es sei nur wenig geschehen und der Weg zu einem wirklichen Kulturwandel noch weit. Gleiches gelte für eine Förderung von Zuwanderung, auf die das an Überalterung und Bevölkerungsschwund leidende Land dringend angewiesen sei.

In der rapide alternden Bevölkerungsstruktur sah auch Junichi Sato eines der Hauptprobleme Japans und zugleich eine der wichtigsten Ursachen für den Reformstau. Unter den älteren Bevölkerungsgruppen sei die Furcht vor Veränderungen besonders ausgeprägt. Diese Angst könne leicht politisch instrumentalisiert und ausgebeutet werden.

Konsens zum Atomausstieg ist zerfallen

Am Beispiel der Kernenergie werde dies besonders deutlich. Nach der nuklearen Katastrophe von Fukushima sei eine Mehrheit der Japaner gegen die weitere Nutzung der Kernenergie gewesen. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand sei dieser Konsens jedoch zerfallen und für immer mehr Menschen würden erneut wirtschaftliche Prioritäten (sprich: billiger Atomstrom) im Vordergrund stehen. Die Kosten eines Atomausstiegs und der Verlust eigener Investitionen in das alte Energieversorgungssystem sind auch für viele Interessengruppen entscheidend.

Dass, wie Axel Berkofsky formulierte, "am Ende die Öffentlichkeit den Preis zahlt", spiele dabei im Kalkül der Mächtigen keine Rolle. Gleichwohl sei Japan seit dem Reaktorunfall in Fukushima bis zum heutigen Tag ohne jegliche Kernkraft ausgekommen, was laut Junichi Sato ein wichtiges Zeichen für die Stimmung im Land sei. Dennoch beabsichtige die Regierung Abe, demnächst einige der stillgelegten Kernkraftwerke wieder anzufahren.

Ein weiterer Plan Abes, der laut den Experten nicht den Bedürfnissen der japanischen Bevölkerung entspreche, sei die Änderung der pazifistischen Verfassung – ein Traum, den bereits Abes Großvater hegte. Im Hinblick auf das bestehende Konfliktpotenzial in Japans Nachbarschaft sei dies jedoch genau das falsche Zeichen und "ein Schuss ins eigene Knie", wie Axel Berkofsky ausführte. Die lange Zeit einzige Demokratie in Ostasien sei ein pazifistisches Land, dessen Regierung sich mit innenpolitischen (Wirtschafts-)Reformen auseinandersetzen müsse. "Abenomics" seien veraltet, so Berkofsky, und Agrarsubventionen sollten wirtschaftlicher und regionaler Integration weichen.

Unerfüllbare Sehnsucht nach altem Wohlstand

Annette Schad-Seifert machte derweil deutlich, dass sich viele Japaner nach den letzten Jahrzehnten des wirtschaftlichen Wohlstandes sehnten. Dieser käme unter den gegebenen Umständen aber nicht wieder. Nun immense Summen zum Beispiel in Tsunami-Frühwarnsysteme zu investieren und dabei den Status quo in Sachen Energiepolitik beizubehalten, ist auch laut Junichi Sato der exakt falsche Weg. Das Land benötige Reformen, die es besonders jungen Menschen ermöglichten, im post-industriellen Japan innovative Kräfte freizusetzen.

Auf die Frage, wo bei den zahlreichen Problemen Japans Oppositionsparteien seien, antworteten die Experten, dass es im de facto demokratischen Einparteienstaat Japan keine wirkliche Alternative zur herrschenden Liberaldemokratischen Partei Abes gebe.

Insgesamt machte die Diskussion deutlich, dass Japan an einem Scheideweg steht. Es muss sich bewusst werden, ob es den Weg einschneidender Reformen einschlagen will oder weiterhin auf eine Politik des "Weiter so" setzt, die die Gefahr birgt, dass das Land im Hinblick auf seine Wirtschaftskraft und Innovationsfähigkeit weiter zurückfällt.