Was Corona für den Ausbildungsmarkt bedeutet

Nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche sind auf die eine oder andere Weise von der Corona-Pandemie betroffen. In der bildungspolitischen Diskussion dominierten in den letzten Monaten vor allem die Fragen, wie mit den Schulschließungen umzugehen sei, wie sich der plötzliche Umstieg auf Homeschooling technisch und didaktisch meistern lässt und wie die Abschlussjahrgänge einigermaßen geregelt ihre Prüfungen ablegen können. Mit den Lockerungen sowie dem Beginn der Sommerferien gibt es hier eine Atempause und die Hoffnung, dass mit sechs Wochen Vorlauf das kommende Schuljahr trotz Corona einigermaßen „normal“ starten und ablaufen wird.

Die Unsicherheit auf dem Ausbildungsmarkt ist groß

Mit den Sommerferien rückt der Start des Ausbildungsjahres 2020 im September näher. Damit stellt sich für viele Schulabgänger*innen und ihre Familien die Frage, wie es dann weitergeht. Die Verunsicherung ist groß: Der massive wirtschaftliche Einbruch wird wohl kaum ohne Folgen für den Ausbildungsmarkt bleiben. „Leiden die Ausbildungsbetriebe, hat das Folgen für das Angebot“ (KfW Research), denn Betriebe, die um ihre Existenz kämpfen oder gar pleite gegangen sind, werden keine Ausbildungsstellen anbieten. Dazu kommt, dass die Corona-Pandemie genau in den Zeitraum gefallen ist, in dem üblicherweise Jugendliche nach Ausbildungsstellen suchen und Bewerbungsgespräche stattfinden. Solche Bewerbungsaktivitäten konnten unter den Bedingungen des Lockdowns nicht in dem Umfang stattfinden wie in früheren Jahren. Es wird berichtet, „dass sich die sonst üblichen Schritte auf dem Weg in die Ausbildung derzeit etwa um zwei bis drei Monate nach hinten verschoben haben.“ (ZDF)

Die wichtigste Informationsquelle für die Situation auf dem Ausbildungsmarkt vor dem Beginn des Ausbildungsjahres sind die monatlichen Berichte der Bundesagentur für Arbeit. Hier zeigt sich neben einem bereits deutlich sichtbaren Rückgang des Ausbildungsstellenangebots ebenfalls ein Rückgang der registrierten Nachfrage seitens der Jugendlichen. Dies könnte darauf hinweisen, dass die Verunsicherung von Ausbildungsinteressenten dazu führt, dass sie sich vorausschauend aus dem Ausbildungsmarkt zurückziehen, indem sie stattdessen schulische Optionen für 2020/21 wählen. So können sie sich zunächst besser qualifizieren und sich dann im Folgejahr um eine Ausbildung bewerben. Abiturient*innen dagegen könnten sich eher für ein Studium statt für eine Ausbildung entscheiden. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, dass die Statistik die tatsächliche Nachfrage nicht korrekt abbildet, weil die Meldung von Ausbildungsinteressierten bei der Bundesagentur für Arbeit in den letzten Monaten wegen der Corona-Pandemie ebenfalls nicht wie gewohnt erfolgen konnte. In dem Fall gäbe es eine höhere Nachfrage nach Ausbildungsplätzen als aktuell statistisch ausgewiesen wird.

Es gibt noch keine belastbaren Zahlen

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es 2020 zu einem deutlichen Rückgang der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge kommt. Dies obwohl sich Sozialpartner und Politik darin einig sind, dass unbedingt weiter ausgebildet werden sollte, um die Fachkräftenachfrage der Unternehmen nach der Krise zu befriedigen.

Im Interesse der jungen Menschen ist es von hoher Bedeutung, einen qualifizierenden Berufsabschluss zu erlangen. Bereits vor Corona ist das für viele Schulabgänger*innen leider nicht selbstverständlich gewesen. Unter den jungen Erwachsenen (20-34 Jahre) besitzt jede siebte Person keinen abgeschlossenen beruflichen oder akademischen Abschluss und befindet sich auch nicht mehr in Ausbildung. Das sind über 2 Millionen Menschen in dieser Alterskohorte. Sie müssen ihr Glück auf dem Arbeitsmarkt als Ungelernte suchen. Ein Vergleich der Arbeitslosenquoten zeigt, dass der Erwerb eines qualifizierenden Berufsabschlusses heute noch wichtiger ist als für frühere Generationen: Ende der 1970er Jahre war das Arbeitslosigkeitsrisiko von Menschen ohne Abschluss nur leicht erhöht. Seitdem ist der Abstand immer weiter gewachsen. Heutzutage besteht ein sechsmal höheres Risiko arbeitslos zu sein, wenn kein Berufsabschluss erreicht wird.

Aus einer systemischen Perspektive, die die duale Ausbildung im Kontext des gesamten Bildungssystems betrachtet, lässt sich nachvollziehen, dass sich die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen vor allem aus drei Quellen speist:

  1. Den Schulabgänger*innen aus allgemeinbildenden Schulen am Ende der Sekundarstufe I (9./10. Klasse),
  2. den Schulabgänger*innen aus allgemeinbildenden oder beruflichen Schulen am Ende der Sekundarstufe II nach dem Erwerb eines (Fach-)Abiturs sowie
  3. den Personen in Maßnahmen des Übergangssektors, die die allgemeinbildende Schule bereits abgeschlossen haben, aber noch keine Ausbildung aufgenommen haben.

Hinzu kommen noch weitere Bewerber*innen um Ausbildungsplätze, die eine Ausbildung oder ein Studium abbrechen, die im Anschluss an eine Ausbildung oder ein Studium eine zusätzliche Ausbildung aufnehmen oder die zuvor bereits länger gearbeitet haben, aber dann aus unterschiedlichsten Gründen noch eine Ausbildung machen wollen. Diese letztgenannten Quellen der Nachfrage sind quantitativ jedoch wenig von Bedeutung, sodass ich diese hier nicht weiter betrachte.

In der Bildungsstatistik sind die unterschiedlichen Bildungswege im Anschluss an die Sekundarstufe I und vor dem dauerhaften Eintritt in den Arbeitsmarkt nicht nachvollziehbar. Die verschiedenen Bildungsbereiche in der Nachschulischen Bildung – duale Ausbildung, Schulberufssystem z. B. für Gesundheitsberufe, Übergangssektor, Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung an allgemeinbildenden oder beruflichen Schulen, Studium – erfassen die Bildungsbeteiligung jeweils separat und sind zudem wegen der unterschiedlichen Dauer der Bildungsangebote schwer vergleichbar. Als weitere statistische Herausforderung kommt hinzu, dass die gleiche Person auf unterschiedliche Art und Weise verschiedene Bildungsangebote nacheinander absolvieren kann und deshalb mehrfach als Ein- und Austritt gezählt wird.

Mit der integrierten Ausbildungsberichterstattung gibt es deshalb ein statistisches Monitoring, das die jährlichen Anfänger*innen in den verschiedenen Bildungsbereichen der Nachschulischen Bildung erfasst und so eine gewisse Vergleichbarkeit herstellt. 2019 mündeten rund 492.000 Personen in die duale Ausbildung ein, weitere 238.000 in Ausbildungen des Schulberufssystems sowie 255.000 in den Übergangssektor. 486.000 begannen den Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung respektive (Fach‑)Abitur und weitere 512.000 ein Studium. Die Summe dieser Zahlen liegt damit deutlich über den rund 780.000 Schüler*innen, die am Ende der Sekundarstufe I stehen und neu in die Nachschulische Bildung einmünden. Diese Differenz liegt an der erwähnten mehrfachen Zählung von Personen durch aufeinanderfolgenden Eintritt in verschiedene Bildungsbereiche.

Die duale Ausbildung innerhalb der Nachschulischen Bildung

Ein berufsqualifizierender Abschluss kann entweder durch eine duale Ausbildung, durch eine Ausbildung im Schulberufssystem oder durch ein Studium erworben werden. Dabei unterscheidet sich die duale Ausbildung von den anderen beiden berufsqualifizierenden Bildungsbereichen dadurch, dass bei der dualen Ausbildung kein bestimmter Schulabschluss vorausgesetzt wird und dass die Höhe des Angebots an Ausbildungsplätzen von der Entscheidung der Betriebe abhängt und nicht von der Bildungspolitik gesteuert wird.

Die duale Ausbildung stellt damit den wichtigsten Qualifizierungsweg für Schulabgänger*innen mit maximal Hauptschulabschluss dar und bietet gleichzeitig attraktive Angebote für Personen mit Hochschulzugangsberechtigung; mittlerweile haben knapp 30 % der neuen Auszubildenden ein (Fach‑)Abitur. Insgesamt ist langfristig aber ein rückläufiger Trend des dualen Ausbildungsvolumens zu beobachten. Gab es 2008 noch mehr als 1.800.000 Auszubildende aller Lehrjahre, waren es 2018 nur noch knapp über 1.600.000.

Da betriebliches Ausbildungsstellenangebot und die Nachfrage ohne formale Regulierungsinstitution auf dem Ausbildungsmarkt zusammenfinden, stehen Ausbildungsbewerber*innen untereinander in Konkurrenz um die begehrten Ausbildungsplätze. Dabei ziehen vor allem die Bewerber*innen mit maximal Hauptschulabschluss oft den Kürzeren. Von den erfassten Anfängern mit maximal Hauptschulabschluss in der Nachschulischen Bildung beginnt eine Mehrheit Maßnahmen des Übergangssektors und keine berufsqualifizierende Ausbildung. Eine hohe Einmündung in den Übergangssektor birgt das Problem, dass sich diese Personen im Folgejahr üblicherweise wieder bewerben und dadurch eine Art Bugwelle entsteht, die die Nachfrage und damit die Konkurrenz über Jahre erhöht.

Gleichzeitig gibt es auch auf der Angebotsseite des Ausbildungsmarkts deutliche Unterschiede zwischen den Betrieben. Es sind vor allem die Kleinstbetriebe mit bis zu neun Beschäftigten, die weniger Auszubildende beschäftigen. Gleichzeitig ist der Anteil der unbesetzten Ausbildungsstellen bei kleinen Betrieben, gerade im Handwerk sehr hoch. Hier scheint auch eine Konkurrenz zwischen Ausbildungsbetrieben zu bestehen, bei der die aus Sicht der Jugendlichen weniger attraktiven oder weniger wahrgenommenen Betriebe leer ausgehen.

Voraussichtlicher Corona-Effekt auf dem Ausbildungsmarkt

Die wirtschaftliche Krise in Folge der Corona-Pandemie wirkt sich zunächst direkt über eine Reduktion des Angebots auf dem Ausbildungsmarkt aus. Im Jahr 2020 werden wohl erheblich weniger Ausbildungsstellen angeboten. Für die Bewerber*innen dürfte dadurch der Konkurrenzdruck nochmals steigen. Außerdem sind all die Jugendlichen bei der Ausbildungsstellensuche zusätzlich benachteiligt, die über weniger soziales und kulturelles Kapital verfügen. Damit ist gemeint: Da die institutionellen Unterstützungsangebote – Schulen, Beratungszentren, Bewerbertage usw. – aufgrund des Lockdowns gar nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung standen, waren und sind in dieser Bewerbungsrunde die familiäre Unterstützung, die IT- und Kommunikationskompetenzen sowie Kontakte aus dem persönlichen Umfeld zu potentiellen Ausbildungsbetrieben noch wichtiger als sonst. Solche Kompetenzen und Kontakte sind ungleich verteilt und üblicherweise bei den auch schulisch erfolgreicheren Jugendlichen in größerem Umfang vorhanden.

Bei Modellrechnungen des Bundesinstituts für Berufsbildung aus dem Mai kam heraus, dass je nach der Tiefe des wirtschaftlichen Einschnitts ein Rückgang der neuen Ausbildungsverträge in 2020 von 25.000 bis 45.000 zu erwarten ist. Allerdings beinhalten diese Vorausberechnungen große Unsicherheiten, da die wirtschaftliche Entwicklung derzeit auch auf kurze Sicht schwer zu prognostizieren ist, die Auswirkungen in Deutschland regional höchst ungleich verteilt auftreten können, Branchen unterschiedlich betroffen sind und die kollektiven Reaktionsmuster der potenziellen Ausbildungsbewerber*innen nur bedingt vorausgesagt werden können.

Bildungspolitisch ist die zentrale Herausforderung jetzt, einen „Ausbildungsjahrgang-Corona zu verhindern“ (Scheele). Dabei kommt es darauf an, die vorhandenen betrieblichen Ausbildungsplätze möglichst zu erhalten und trotz der schwierigen Situation optimal auszuschöpfen. So wird die Nachvermittlung in diesem Jahr voraussichtlich eine ungewohnt große Bedeutung erlangen. Außerdem werden aber auch zusätzliche Ausbildungsangebote gebraucht, wenn alle Ausbildungsinteressierten versorgt werden sollen und ein Rückstau im Übergangssektor vermieden werden soll. Frühere Krisen auf dem Ausbildungsmarkt haben gezeigt, dass der Übergangssektor schnell anwachsen kann, aber aufgrund des Bugwelleneffekts den Ausbildungsmarkt danach lange belastet. Dies könnte diesmal vermieden werden, wenn entsprechend des regionalen Bedarfs zusätzliche berufsqualifizierenden Angebote geschaffen werden. Idealerweise sollten solche Angebote während der Ausbildungszeit den Übergang in eine betriebliche Regelausbildung ermöglichen, um die Entstehung eines Parallelsystems zu verhindern. Falls der Übergang in eine Regelausbildung nicht gelingt, müsste die Teilnahme an den Abschlussprüfungen der zuständigen Kammern sichergestellt werden, um einen vollwertigen Abschluss zu ermöglichen. So könnte im Übrigen auch erreicht werden, dass im Falle einer länger andauernden wirtschaftlichen Krise genügend junge Fachkräfte ausgebildet werden, die den Betrieben andernfalls später fehlen werden.

Zum Verständnis der Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Ausbildungsmarkt ist es entscheidend, im Hinterkopf zu behalten, dass die grundlegenden Probleme nicht neu sind. Corona wirkt eher als Brandbeschleuniger, denn als Ursache. Wenn nicht bildungspolitisch interveniert wird, werden auf dem Ausbildungsmarkt 2020 vermutlich besonders die Jugendlichen mit maximal Hauptschulabschluss sowie die Kleinstbetriebe die Leidtragenden sein – noch mehr als es ohne Corona sowieso der Fall gewesen wäre.



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